Das Medium Film mag seinen Ursprung im fotografischen Bild haben, doch liegt seine Essenz in der Wahrnehmung einer Bewegung durch Raum und Zeit. Das Bewegtbild braucht die Bewegung im Bild – die Bewegung ist es, die den Film von anderen mechanisch reproduzierbaren Künsten abhebt. Kein Wunder also, dass Tanz sich als filmisches Motiv wie ein roter Faden durch die Filmgeschichte zieht. Seit den Anfängen des Films waren tanzende Körper ein beliebtes Sujet. Die bis ins kleinste Detail choreografierten, höchst aufwendig produzierten Musicals aus Hollywoods goldener Ära (1927–1960) sind noch heute ein Richtwert für die Industrie. Filmdramen aus den Independent- und Mainstreambereichen, die mit Tanz und Gesang die rigiden Normen einiger Genres aufbrechen, erfreuen sich aktuell grosser Beliebtheit. Heute ist Tanz auch in der digitalen Welt allgegenwärtig. Plattformen wie YouTube und TikTok bieten eine globale Bühne für virale Tanztrends. Auch in aktuellen Kurzfilmen gewinnen Tanzmotive zunehmend an Bedeutung, weshalb wir dem Tanz und der Bewegung im Kurzfilm dieses Jahr drei Programme widmen.
Die Bewegung beinhaltet eine Ambivalenz, gerade, wenn sie als Sujet auf der Leinwand wahrgenommen wird. Der Körper der Zuschauer:innen bleibt stets immobil, denn das Dispositiv des Kinos ist starr und einbahnig; die Bewegung findet nur auf der Leinwand statt. Wenn auch filmisch festgehalten, bleibt Tanz flüchtig und muss getanzt werden, um seine volle Kraft zu entfalten. In unseren Programmen gehen wir darum über die Faszination der auf die Leinwand gebannten Bewegung hinaus und lassen Tanz auch in seinen sozialen und psychologischen Kontexten erfahrbar werden.
Tanz und Bewegung lassen sich als Moment der Entfesslung verstehen. Tänzerisch lassen sich Grenzen überwinden: zwischen künstlerischen Disziplinen, zwischen rigiden Genregrenzen, aber auch im politischen Sinne. Wer tanzt, fordert Raum ein für den eigenen Körper und das eigene Sein. Wer sich in Rage und Ekstase tanzt, lässt den Alltag hinter sich und erschliesst sich transzendente Räume reiner Körperlichkeit und voller Möglichkeiten. Wo Worte fehlen, beginnt der Körper zu sprechen. Als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel haben Tanz und Bewegung das Potenzial, über kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg Menschen zu verbinden und tiefe Emotionen auszudrücken.
Diese Perspektiven schlagen sich auch in unseren drei Programmen nieder: In Dance with Me laden wir ein, gemeinsam mit den Figuren aus dem Alltag auszubrechen und uns im Tanz wiederzufinden. Dabei können wir beobachten, wie sich in der Störung der gewohnten Ordnung neue Gemeinschaften bilden und Identitäten verschieben. Your Space Is My Dancefloor geht der Frage nach den gesellschaftspolitischen Implikationen nach, wenn tanzende Körper Raum einnehmen. Tanz wird dabei zur Selbstermächtigung, zur Einforderung von Sichtbarkeit und zum Akt des Widerstands. Das Programm zeigt, wie Bewegung soziale Machtverhältnisse hinterfragt, Normen verschiebt und Räume neu definiert – physisch, politisch und symbolisch. Das Programm The Movies spürt der Wechselwirkung zwischen Bewegung und Bewegtbild nach und nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch die verschiedenen Tanzfilmgenres der Filmgeschichte. Von spielerischen Experimenten aus verschiedenen Epochen über Versuche, die Kluft zum stillsitzenden Publikum zu überwinden und es auch zur Bewegung zu animieren, bis hin zur Kommerzialisierung von Tanzbildern und der stilprägenden Kraft choreografierter Körper im Popkulturkino.
Kuratiert von Inken Blum und Laura Walde
Your Space Is My DancefloorTanz ist mehr als Bewegung im beliebig freien Rhythmus oder nach strengen Regeln. Tanz ist auch Ausdruck von Gemeinschaft, von Widerstand und von Selbstbestimmung. Im Programm Your Space Is My Dancefloor tanzen Gemeinschaften gegen systemische Unterdrückung an. Körperliche Bewegungen machen Machstrukturen einerseits sichtbar und brechen sie andererseits tänzerisch auf. Wer tanzt, fordert Raum ein für den eigenen Körper.
In «Fantasma Neon» von Leonardo Martinelli wird Tanz zur Überlebensstrategie in einer prekären urbanen Realität in der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro. Die Stadt wird zur Bühne eines neonfarbenen Musicals, wenn der Lieferdienstfahrer João von einer besseren Zukunft träumt und gegen die von Ausbeutung geprägten Bedingungen seines Lebens antanzt. Der Film verbindet soziale Realität mit choreografierter Ekstase und zeigt Tanz als kollektive Selbstbehauptung. «Safe Space» von Mirelle Borra zeichnet eindrücklich nach, wie Tanz Räume der Sicherheit und Zugehörigkeit für queere Identitäten schafft: Borra montiert Archivmaterial aus der Ballroom-Szene der 1990er Jahre mit KI-generierten Stimmen queerer Geflüchteter. Der Film schafft einen virtuellen Schutzraum, in dem Tanz Widerstand gegen Ausgrenzung und Gewalt leistet und Sichtbarkeit reklamiert. Emilia Izquierdo lässt in «Ghost Dance» Körper durch Schwellenräume gleiten – zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Erinnerung und Zukunft. Sie verwebt handgezeichnete Animationen mit historischem Filmmaterial, darunter Aufnahmen indigener Tänze von Thomas Edison aus den Anfängen der Filmgeschichte. Dem Tanz kommt in diesem Film eine Doppelrolle zu: Als spirituelle Verbindung zu Vorfahren und kulturellem Erbe und als Protest durch die Zeiten hindurch, von den Sioux Ende des 19. Jahrhunderts zu heutigen Bewegungen in Gaza, Südafrika oder Peru. In «We Need New Names» kombiniert Onyeka Igwe koloniale Geschichte mit choreografierter Bewegung, um ihre eigene Identität zu untersuchen. Tanz bedeutet hier performative Erinnerung und rituelle Geste im Aufbrechen von kolonialen Korsetten. «Pidikwe» von Caroline Monnet bringt indigene Frauen verschiedener Generationen zusammen in einem Moment kultureller Selbstermächtigung. In einem Strudel aus traditionellen und zeitgenössischen Bewegungen verschwimmen die Grenzen zwischen Film und Performance: Tanz bildet eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. «Maman danse» von Mégane Brügger schliesslich ist ein intimes Porträt einer Mutter-Tochter-Beziehung nach Jahren von häuslicher Gewalt. Was bleibt, sind Worte, Erinnerungen – und Tanzschritte. Der Film porträtiert Tanz als Akt der Heilung, als Weg, Traumata zu verarbeiten und Kraft weiterzugeben.
Die Filme in Your Space Is My Dancefloor zeigen Tanz nicht nur – aber auch – als Ekstase und Vergnügen. Der tanzende Körper ist ein Mittel der Kommunikation, der Heilung, der Transformation. Tanz kann Grenzen überwinden – zwischen Disziplinen, Körpern, Kulturen. Er kann starre Normen aufbrechen und neue Räume eröffnen. Wer tanzt, bewegt nicht nur sich selbst, sondern auch gesellschaftliche Strukturen. Tanz wird zur Sprache, wenn Worte fehlen. Zur Forderung, wenn Anerkennung ausbleibt. Zur Befreiung, wenn Geschichte belastet.
Kuratiert von Laura Walde und Inken Blum
In Zusammenarbeit mit:Das Tanzfest Winterthur
Mit freundlicher Unterstützung von: