Trotz seiner enormen Grösse hat Kanada nur eine Landgrenze mit einem anderen Staat, den USA im Süden. Es ist ein unvorstellbar grosses und vielseitiges Land. Seit Jahrtausenden von indigenen Völkern bewohnt, wurde das Land im 16. Jahrhundert von den Briten und Franzosen kolonisiert. Die heutige Bevölkerung Kanadas umfasst zahlreiche ethnische Gruppen, darunter viele indigene Völker (First Nations, Inuit und Métis). Englisch und Französisch sind zwar die beiden Amtssprachen, aber es werden immer noch mehr als 60 indigene Sprachen gesprochen. Entsprechend eklektisch ist das kanadische Kino, geprägt von Sprache, Geografie und vielerlei kulturellen Gruppen. Die acht kuratierten Programme im Grossen Fokus beleuchten die komplexe Vielfalt dieses Kinos und seine historische Entwicklung.
Zu den wichtigsten Institutionen der kanadischen Filmgeschichte gehört zweifellos das National Film Board (NFB). Gegründet während des Zweiten Weltkriegs mit kriegsorientierten Filmen, ist das NFB heute führend in den Bereichen Dokumentarfilm, Animation und interaktive Erlebnisse. In der Nachkriegszeit entstanden neue innovative Abteilungen. Dank diesen kennen wir heute die Werke von Animationsfilmer Norman McLaren, das Direct Cinema von Pierre Perrault und Michel Brault sowie Colin Low und das Projekt Challenge for Change / Société Nouvelle, das vor allem indigenen Filmschaffenden eine Stimme geben sollte. In jüngerer Zeit hat sich das NFB zu einem öffentlichen Produzenten und Verleiher von Filmen und digitalen Medien entwickelt, der vom kanadischen Kulturministerium mit Steuergeldern finanziert wird.
Nach den 1970er Jahren distanzierten sich französischsprachige Filmschaffende aus Quebec vom Dokumentar- und Animationsfilm und wandten sich dem Spielfilm zu. Sie erzählten persönliche Geschichten und thematisierten in ihren Figuren und Handlungen die Sprache und die politische Desillusionierung. In zwei Referenden (1980 und 1995) stimmte die Bevölkerung darüber ab, ob Quebec sich von Kanada abspalten und ein unabhängiger Staat werden sollte. Die Wählerschaft lehnte die Sezession beides mal ab, aber die Referenden prägten den politischen Tenor der Zeit. Filmschaffende wie Denys Arcand, Léa Pool, André Forcier und Francis Mankiewicz schufen existenzialistische Werke über die Gesellschaft von Quebec mit ihren sprachlichen und kulturellen Besonderheiten innerhalb von Kanada.
Ausserhalb von Grossstädten wie Montreal, Toronto und Vancouver war es immer schwierig, Filme zu finanzieren, doch in Winnipeg entstand ein bemerkenswertes Epizentrum des unabhängigen Kinos. Über die Winnipeg Film Group wurden Filme finanziert, produziert und in einer eigenen Kinemathek gezeigt. Dank dieser dynamischen Gruppe hat Winnipeg uns Regietalente wie Guy Maddin, Deco Dawson, Caroline Monnet, Matthew Rankin und Ryan McKenna beschert.
Bei Kanada und seinen weiten Landschaften denkt man unweigerlich an eine geheimnisvolle Wildnis und unendliche Möglichkeiten. Trotz seiner komplizierten Geschichte rühmt sich das Land als Gesellschaft, die auf Werten wie Toleranz, Redefreiheit und Respekt basiert. Diese haben ein oft gewagtes Kino in einem entschieden punkigen Geist hervorgebracht. Es gibt einen enormen Reichtum an Perspektiven, Stimmen und Kreativität, der den ungleichen und zuweilen marginalisierten Gemeinschaften entstammt.
Émilie Poirier
There Is a Crack in Everything, That’s How the Light Gets InAls den Dichter der Zerrissenheit («the poet of brokenness») betitelte die Zeitschrift Rolling Stone die kanadische Ikone Leonard Cohen im Nachruf auf sein Leben und Werk. Denn in seiner schaurig-schönen Musik gingen Dunkelheit und Verzweiflung immer Hand in Hand mit Zärtlichkeit und Hoffnung.
«There is a crack in everything, that’s how the light gets in» ist eine Zeile aus Cohens Song «Anthem», die für dieses Programm Pate stand. Es versammelt Filme, die sich ernster Themen annehmen: Tod, Trauer, Verzweiflung und Einsamkeit. Aber auch Licht und Hoffnung, Zusammenhalt und Heilung sind Teil dieser mit fantastischen Elementen versehenen Werke. Ähnlich den langen, harten, dunklen Wintern in Kanada, die sich über die Schönheit der unendlichen, erhabenen Landschaften erstrecken, vereint die Auswahl Finsteres und Heiteres, Hässliches und Schönes. Schwermütige Themen werden durchbrochen von Lichtblicken und Leichtigkeit auf einem Streifzug zwischen Beklommenheit und Trost. Wer sich für unkonventionelle Erzählweisen und aussergewöhnliche Bildsprache begeistert, wird nicht enttäuscht sein von dieser ästhetischen, visuell betörenden Reise durch die kanadische Psyche.
Kuratiert von Laura Walde und John Canciani
Mit freundlicher Unterstützung von: