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Dass die Familie zuerst kommt, haben alle Angehörigen lateinamerikanischer Kulturen schon oft in ihrem Leben gehört. Es ist eine Art Mantra, das die starken Bande zwischen Familienmitgliedern ebenso auf den Punkt bringt wie die enormen Erwartungen aneinander. Das Programm beleuchtet diese komplexen Beziehungen, aus denen sich unglaubliche Kraft schöpfen lässt, die aber auch eine enorme Heraus- und Überforderung bedeuten können.
Honorata Vilca, eine Analphabetin mit Quechua-Wurzeln, lebt im Hochland von Peru mit ihrem Hund und verkauft Süssigkeiten. Während der Regenzeit erzählt sie aus ihrem Leben, bis es eines Tages zu einem fatalen Ereignis kommt.
Jesús lebt mit seinem Vater am Ufer eines grossen Sees. Sein älterer Bruder José ist nach Hause zurückgekehrt und bringt eine kriminelle Vergangenheit mit sich. Jesús begleitet ihn auf der Suche nach einem Job, der seinen Ruf wiederherstellen soll.
Long-Legged Nuria Frank Vera Jiménez / Ecuador 2019 / 18'15" / DCP / Farbe / Spanisch / Fic
Die Elefantenfrau ist weg. Berenice heisst sie. Wir wissen nur, dass sie nach einer Henne sucht. Zurückgelassen hat sie unter anderem ihre Tochter: Nuria mit den langen Beinen. Wo auch immer sie hingeht, Nuria folgt ihr und lockt sie mit ihren Geschichten zurück. Aber was, wenn die wilden Erzählungen ihre Mutter nicht mehr festhalten können? Was, wenn selbst ihre Geschichten den Tod nicht aufhalten können?
Ein Zoowärter ist dabei eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen, die er kaum kennt, als er einen schweren Verkehrsunfall hat. Derweil schreibt ein Mann am anderen Ende der Welt, der an Schlaflähmung leidet, eine E-Mail um ein langes Schweigen in der Familie zu brechen.
Die Anden erstrecken sich von Argentinien, wo sie als natürliche Grenze zu Chile fungieren, nordwärts durch Bolivien, Peru, Ecuador und Kolumbien, wo sie sich dreifach verzweigen, wobei einer der drei Zweige bis nach Venezuela reicht. Die acht kuratierten Programme unseres Grossen Fokus sind das Resultat einer umfassenden audiovisuellen Recherche über dieses riesige Gebiet. Los Estados Andinos präsentiert ein Panorama der politischen, sozialen und kulturellen Szene dieser sieben Länder, wobei die Eigenheiten und Traditionen jeder Nation ebenso beleuchtet werden wie die Gemeinsamkeiten und kollektive Identität.
Die lateinamerikanische Filmindustrie, und spezifisch jene der Andenregion, wuchs mit der wirtschaftlichen Kapazität und dem Investitionswillen der jeweiligen Länder. Das Filmschaffen stand zudem stets in direktem Zusammenhang mit sozialen und politischen Turbulenzen, sowohl in der Region selbst als auch unter dem Einfluss externer Ereignisse. Auf die Ankunft des Kinos um 1896 folgt seine langsame Verbreitung, doch erst in den 1940er und 50er Jahren beginnt die einheimische Produktion zu blühen, nachdem die Staaten Gesetze zur Filmförderung erlassen haben. Insbesondere Argentinien sticht diesbezüglich hervor. Nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Einfluss der kubanischen Revolution entsteht eine neue Kinokultur, die rasch politisiert wird. Filmschaffende lassen sich in dieser Zeit von unterschiedlichsten – vor allem ausländischen – Quellen inspirieren, was eine Phase der Experimente einläutet.
Die 1960er und 70er Jahre waren entscheidend: Angefacht von Volksbewegungen, die kulturelle, politische und wirtschaftliche Autonomie forderten, entstand in einem postkolonialen Kontext die neue lateinamerikanische Filmbewegung, die einen Bruch mit der etablierten Filmpraxis brachte. Die Bewegung wollte die Realitäten Lateinamerikas mit allen ihren Kontrasten aufzeigen und stellte neue, bis anhin ignorierte Themen in den Mittelpunkt, wie etwa das kollektive Gedächtnis der Ausgegrenzten. Es war eine hochkritische Bewegung, die sich gegen das Establishment und den Mainstream wandte und ein Kino anstrebte, das soziopolitische Veränderungen auslösen konnte. Es führte zunächst vor allem in Argentinien und Chile zu einer fruchtbaren Produktion, bevor es sich in der Region weiterverbreitete, vor allem nach Kolumbien, Ecuador und Venezuela. Gleichzeitig bildeten sich mehrere nationale Strömungen heraus, die ein autochthones Autorenkino anstrebten.
In den späten 1970er Jahren kam es mit dem Aufstieg von Diktaturen und schwindenden Finanzmitteln zu einem Rückgang der Filmproduktion in der Region. Viele Filmschaffende gingen ins Exil und arbeiteten im Ausland weiter. Die 1980er waren eine Zeit der Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung und prekärer Distributionskanäle. Seit den 1990ern erleben verschiedene Filmindustrien wieder ein beachtliches Wachstum und kreative Wellen, insbesondere in Argentinien, das zu Recht als führende Kraft in der Region gilt, aber auch in Chile und Kolumbien. Das Filmschaffen von Bolivien, Peru und Ecuador wiederum wird zwar oft vernachlässigt, doch entstehen auch in diesen Ländern relevante Werke, die das Leben indigener Gruppen in der heutigen Zeit beleuchten.
Wir sind uns der enormen Vielfalt der Region und der Eigenheit der einzelnen Länder bewusst. Wir wollen diese keinesfalls homogenisieren oder ihre Erfahrungen miteinander gleichsetzen. Stattdessen möchten wir mit unserer Auswahl den Multikulturalismus dieser Nationen und gleichzeitig ihre gemeinsamen Erfahrungen im Laufe der Geschichte aufzeigen. Entsprechend sind die Programme nicht nach Nationen, sondern thematisch strukturiert.
Drei Programme widmen sich den soziopolitischen Verhältnissen in den Andenländern. Während zwei davon, Working the Land und Critical Contrasts, eine historische Perspektive einnehmen, fokussiert Andean Paradox auf die Gegenwart und den zunehmenden Willen in der Gesellschaft, sich Handlungsmacht zurückzuerobern. Das Programm Tierra vital ist eine Reise durch Landschaften, welche die kulturellen Praktiken, Identitäten und Vorstellungen der Bevölkerung prägen. Es geht um den Zusammenhang zwischen Ort und Zughörigkeitsgefühl. Family Comes First widmet sich – wie der Titel besagt – der Bedeutung der Familie, den Konflikten und Bindungen zwischen Familienmitgliedern. Queere Erfahrungen und körperliche Selbstbestimmung erhalten im Programm Free Your Mind, Free Your Body ein Fenster. Die Programme Stories of the Uncanny und Blurred Lines spiegeln sich gewissermassen: In ersterem dient der Animationsfilm als Medium, um schwierige, seltsame und scheinbar disparate Themen zu beleuchten, die gleichzeitig anziehend und abstossend wirken. Letzteres ist vom magischen Realismus inspiriert, wo Spuren des Übernatürlichen im Alltäglichen auftauchen – ein atmosphärisches Programm, in dem sich Realität und Magie vermischen.
Die Anden sind eine facettenreiche Region, die von einer geheimnisvollen und mystischen Aura umgeben ist. Als kolumbianische Kuratorin, die mehrere Jahre in Europa gelebt hat, bin ich mir der vielfältigen Assoziationen bewusst, die mit dem Begriff «Lateinamerika» verbunden sind. Viele betrachten uns mit Sehnsucht und Verlangen, einige mit Angst. Während uns die einen mit ehrlicher Neugier begegnen, wollen andere unsere Länder ausbeuten. Wir gelten auch als unglaublich offene und warmherzige, glückliche und liebevolle Menschen, die allen mit offenen Armen begegnen. Unsere Staaten hingegen werden meist mit politischer und sozialer Instabilität assoziiert – ein Urteil, das dann mit der Schönheit der Bevölkerung und den majestätischen und vielseitigen Landschaften der Region kontrastiert wird. Trotzt der Stereotypen und der Bilder, die wir hervorrufen, sind wir zweifellos eine plurikulturelle und multiethnische Region, die sich ein Gebiet und eine koloniale Vergangenheit teilt, aber gleichzeitig unterschiedliche Länder mit ihren je eigenen, komplexen politischen und sozioökonomischen Realitäten umfasst.
Text: Mariana Bonilla Rojas Kuratiert von Mariana Bonilla Rojas, John Canciani, Laura Walde, Federico Windhausen
Family Comes First
La familia es lo primero: Dass die Familie zuerst kommt, haben alle Angehörigen lateinamerikanischer Kulturen schon oft in ihrem Leben gehört. Es ist eine Art Mantra, das die starken Bande zwischen Familienmitgliedern ebenso auf den Punkt bringt wie die enormen Erwartungen aneinander. Die Familie steht für Unterstützung, Fürsorge, Beständigkeit und bedingungslose Liebe. Sie soll Stabilität geben und ein Heimatgefühl vermitteln. Die vier Filme in diesem Programm beleuchten die komplexen Beziehungen, aus denen sich unglaubliche Kraft schöpfen lässt, die aber auch eine enorme Heraus- und Überforderung bedeuten können.
«Mother Rain» handelt vom Akzeptieren der eigenen Herkunft. Durchwegs in Quechua erzählt und gesprochen, folgt der Film der Mutter des Regisseurs und porträtiert ihre Probleme, ihre Weisheit, ihre Kraft. «Amphibian» zeigt eine dreiköpfige Familie, wobei der Fokus auf der Beziehung zwischen den beiden Brüdern liegt. Gefühle von Enttäuschung und Groll kommen an die Oberfläche. Im Zentrum von «Long-Legged Nuria» steht eine Mutter-Tochter-Beziehung; es geht um Tod und Verlust und um deren unbewusste Verarbeitung. «(No Subject)» schliesslich zeigt die nachhaltigen Auswirkungen von Familientraumata. In den zwei miteinander verwobenen Geschichten ist die Vergangenheit der Schlüssel zur Gegenwart, zu Erlösung und Heilung. Vater und Tochter finden wieder zueinander, während ein anderer Mann an seine Schwester zurückdenkt, von der er seit Jahren entfremdet ist.
Es sind Geschichten von Zuneigung und Verbundenheit, die das gesamte Gefühlsspektrum abbilden, das in Familien vorkommt. Erlebnisse werden einfühlsam, behutsam und vor allem wahrhaftig erzählt. Die Familie wird nicht romantisiert, es gibt keinen Anspruch auf Perfektion. Stattdessen zeigen die Filme Familienbeziehungen, wie sie sind: problembeladen, kompliziert und doch auch schön.
Kuratiert von Laura Walde und Mariana Bonilla Rojas
Die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur sind das bedeutendste Kurzfilmfestival der Schweiz. Jeden November verwandeln wir die Stadt Winterthur für sechs Tage in eine Kurzfilmmetropole.
An den Kurzfilmtagen gibt es für alle etwas zu entdecken: Wir zeigen sorgfältig zusammengestellte Kurzfilmprogramme zu aktuellen Geschehnissen oder zu Themen, die unseren Kurator:innen unter den Nägeln brennen. Die Wettbewerbsblöcke fühlen den Puls des aktuellen, weltweiten Filmschaffens und die Installationen, Performances und weiteren Specials machen audiovisuelle Formen in ihrer ganzen Vielfalt erlebbar. Ein Rahmenprogramm mit Konzerten, Lesungen und mehr erweitert das Festivalerlebnis.
Der Kurzfilm ist nicht einfach ein kürzerer Film. Er ist eine eigene Kunstform, die wir mit unserem Festival jährlich in den Fokus stellen.
Der Kurzfilm erscheint in allen Genres und kann unterschiedlich lang – oder eben kurz – sein. Einfachere Produktionswege machen es ihm möglich, den Zeitgeist und Strömungen rasch einzufangen und abzubilden. Der kurze Film kann unterhalten, überraschen, die Gesellschaft analysieren, eine politische Haltung einnehmen oder Einblick in uns fremde Welten geben.
Wir bündeln unsere Kurzfilme in thematischen Programmen oder nach bestimmten Sektionen, wie z.B. unsere Wettbewerbe, und stimmen die Filme und Reihenfolge aufeinander ab. Für den Kurzfilmgenuss gibt es somit nur eine Voraussetzung: die Neugierde, Neues zu entdecken und sich überraschen zu lassen.