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Mit einer vielfältigen Auswahl von bekannten Klassikern und zu Unrecht vergessenen Werken präsentieren die zwei Programme Working the Land und Critical Contrasts das sozial engagierte, unabhängige Dokumentarfilmschaffen der Andenländer. Die Filme und Videos umfassen ein breites Spektrum an Schauplätzen und Anlässen: einen internationalen Schönheitswettbewerb in Lima, eine argentinische Suppenküche, eine schwimmende Stadt auf dem Amazonas, diverse Filmdrehs in Chile, die grünen Hochlandstädte von Ecuador und Bolivien und die öden Vororte von Bogotá.
Im Kontext Talk nach dem Screening sprechen Filmschaffende und Kurator:innen aus dem Grossen Fokus über die Geschichte und Bedeutung des politischen und gesellschaftskritischen Kinos der Andenländer.
In der verarmten Provinz Tucumán im nördlichen Argentinien gedreht, zeigt der Film Kinder und alte Menschen, die sich in einer Suppenküche verpflegen, die nicht vom Staat unterstützt wird. Die Bilderfolge mit vielen Grossaufnahmen wird von der argentinischen Nationalhymne auf dem Soundtrack begleitet.
Radio Belén Gianfranco Annichini / Peru 1985 / 12' / 35mm / Farbe / Spanisch / Doc
In Belén, einem Bezirk der Stadt Iquitos im Amazonasgebiet von Peru, findet das Leben über dem Wasser, auf schwimmenden Plattformen statt. Das Lokalradio ist über öffentliche Lautsprecher zu hören. Anstatt das schwimmende Armenviertel sensationslüstern aufzubereiten, widmet sich der Film den kleinen Details des Alltags und der öffentlichen Kultur.
Eine Kritik des Miss Universe Schönheitswettbewerbs, der 1982 in Peru stattfand. Der Film kontrastiert das globale Spektakel mit einem feministischen Porträt lokaler Frauen.
Von Mai 1984 bis Dezember 1985 während der Pinochet-Diktatur besuchte der Filmemacher Ignacio Agüero fünf Filmsets und befragte die Filmschaffenden zu ihren Erfahrungen und Meinungen in Bezug auf das Filmemachen in Chile.
Die Anden erstrecken sich von Argentinien, wo sie als natürliche Grenze zu Chile fungieren, nordwärts durch Bolivien, Peru, Ecuador und Kolumbien, wo sie sich dreifach verzweigen, wobei einer der drei Zweige bis nach Venezuela reicht. Die acht kuratierten Programme unseres Grossen Fokus sind das Resultat einer umfassenden audiovisuellen Recherche über dieses riesige Gebiet. Los Estados Andinos präsentiert ein Panorama der politischen, sozialen und kulturellen Szene dieser sieben Länder, wobei die Eigenheiten und Traditionen jeder Nation ebenso beleuchtet werden wie die Gemeinsamkeiten und kollektive Identität.
Die lateinamerikanische Filmindustrie, und spezifisch jene der Andenregion, wuchs mit der wirtschaftlichen Kapazität und dem Investitionswillen der jeweiligen Länder. Das Filmschaffen stand zudem stets in direktem Zusammenhang mit sozialen und politischen Turbulenzen, sowohl in der Region selbst als auch unter dem Einfluss externer Ereignisse. Auf die Ankunft des Kinos um 1896 folgt seine langsame Verbreitung, doch erst in den 1940er und 50er Jahren beginnt die einheimische Produktion zu blühen, nachdem die Staaten Gesetze zur Filmförderung erlassen haben. Insbesondere Argentinien sticht diesbezüglich hervor. Nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Einfluss der kubanischen Revolution entsteht eine neue Kinokultur, die rasch politisiert wird. Filmschaffende lassen sich in dieser Zeit von unterschiedlichsten – vor allem ausländischen – Quellen inspirieren, was eine Phase der Experimente einläutet.
Die 1960er und 70er Jahre waren entscheidend: Angefacht von Volksbewegungen, die kulturelle, politische und wirtschaftliche Autonomie forderten, entstand in einem postkolonialen Kontext die neue lateinamerikanische Filmbewegung, die einen Bruch mit der etablierten Filmpraxis brachte. Die Bewegung wollte die Realitäten Lateinamerikas mit allen ihren Kontrasten aufzeigen und stellte neue, bis anhin ignorierte Themen in den Mittelpunkt, wie etwa das kollektive Gedächtnis der Ausgegrenzten. Es war eine hochkritische Bewegung, die sich gegen das Establishment und den Mainstream wandte und ein Kino anstrebte, das soziopolitische Veränderungen auslösen konnte. Es führte zunächst vor allem in Argentinien und Chile zu einer fruchtbaren Produktion, bevor es sich in der Region weiterverbreitete, vor allem nach Kolumbien, Ecuador und Venezuela. Gleichzeitig bildeten sich mehrere nationale Strömungen heraus, die ein autochthones Autorenkino anstrebten.
In den späten 1970er Jahren kam es mit dem Aufstieg von Diktaturen und schwindenden Finanzmitteln zu einem Rückgang der Filmproduktion in der Region. Viele Filmschaffende gingen ins Exil und arbeiteten im Ausland weiter. Die 1980er waren eine Zeit der Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung und prekärer Distributionskanäle. Seit den 1990ern erleben verschiedene Filmindustrien wieder ein beachtliches Wachstum und kreative Wellen, insbesondere in Argentinien, das zu Recht als führende Kraft in der Region gilt, aber auch in Chile und Kolumbien. Das Filmschaffen von Bolivien, Peru und Ecuador wiederum wird zwar oft vernachlässigt, doch entstehen auch in diesen Ländern relevante Werke, die das Leben indigener Gruppen in der heutigen Zeit beleuchten.
Wir sind uns der enormen Vielfalt der Region und der Eigenheit der einzelnen Länder bewusst. Wir wollen diese keinesfalls homogenisieren oder ihre Erfahrungen miteinander gleichsetzen. Stattdessen möchten wir mit unserer Auswahl den Multikulturalismus dieser Nationen und gleichzeitig ihre gemeinsamen Erfahrungen im Laufe der Geschichte aufzeigen. Entsprechend sind die Programme nicht nach Nationen, sondern thematisch strukturiert.
Drei Programme widmen sich den soziopolitischen Verhältnissen in den Andenländern. Während zwei davon, Working the Land und Critical Contrasts, eine historische Perspektive einnehmen, fokussiert Andean Paradox auf die Gegenwart und den zunehmenden Willen in der Gesellschaft, sich Handlungsmacht zurückzuerobern. Das Programm Tierra vital ist eine Reise durch Landschaften, welche die kulturellen Praktiken, Identitäten und Vorstellungen der Bevölkerung prägen. Es geht um den Zusammenhang zwischen Ort und Zughörigkeitsgefühl. Family Comes First widmet sich – wie der Titel besagt – der Bedeutung der Familie, den Konflikten und Bindungen zwischen Familienmitgliedern. Queere Erfahrungen und körperliche Selbstbestimmung erhalten im Programm Free Your Mind, Free Your Body ein Fenster. Die Programme Stories of the Uncanny und Blurred Lines spiegeln sich gewissermassen: In ersterem dient der Animationsfilm als Medium, um schwierige, seltsame und scheinbar disparate Themen zu beleuchten, die gleichzeitig anziehend und abstossend wirken. Letzteres ist vom magischen Realismus inspiriert, wo Spuren des Übernatürlichen im Alltäglichen auftauchen – ein atmosphärisches Programm, in dem sich Realität und Magie vermischen.
Die Anden sind eine facettenreiche Region, die von einer geheimnisvollen und mystischen Aura umgeben ist. Als kolumbianische Kuratorin, die mehrere Jahre in Europa gelebt hat, bin ich mir der vielfältigen Assoziationen bewusst, die mit dem Begriff «Lateinamerika» verbunden sind. Viele betrachten uns mit Sehnsucht und Verlangen, einige mit Angst. Während uns die einen mit ehrlicher Neugier begegnen, wollen andere unsere Länder ausbeuten. Wir gelten auch als unglaublich offene und warmherzige, glückliche und liebevolle Menschen, die allen mit offenen Armen begegnen. Unsere Staaten hingegen werden meist mit politischer und sozialer Instabilität assoziiert – ein Urteil, das dann mit der Schönheit der Bevölkerung und den majestätischen und vielseitigen Landschaften der Region kontrastiert wird. Trotzt der Stereotypen und der Bilder, die wir hervorrufen, sind wir zweifellos eine plurikulturelle und multiethnische Region, die sich ein Gebiet und eine koloniale Vergangenheit teilt, aber gleichzeitig unterschiedliche Länder mit ihren je eigenen, komplexen politischen und sozioökonomischen Realitäten umfasst.
Text: Mariana Bonilla Rojas Kuratiert von Mariana Bonilla Rojas, John Canciani, Laura Walde, Federico Windhausen
Critical Contrasts
Diese Auswahl historischer Dokumentarfilme aus der Andenregion bietet einen Überblick über vier Jahrzehnte unabhängigen Filmschaffens unter schwierigen Bedingungen – sei es in wirtschaftlicher, ökologischer, politischer oder institutioneller Hinsicht. Die Motivation hinter all diesen Filmen lag – zumindest teilweise – im Bedürfnis, in die Darstellungsnormen des jeweiligen Landes (und vielleicht der ganzen Region) einzugreifen.
Working the Land präsentiert Dokumentarfilme, in denen das von den Figuren bewohnte Land ein wichtiger Aspekt der lokalen Identität ist. Ebenso wichtig ist die Einsicht, dass die Armen in Strukturen gefangen sind, die sowohl ihre Beziehung zu ihrer natürlichen Umgebung als auch ihre Überlebensfähigkeit bestimmen. Das Programm beginnt in Kolumbien mit einem der einflussreichsten lateinamerikanischen Filme über Land und Arbeit. Es folgt ein selten gezeigter Blick auf ökologische Probleme in indigenen Gemeinschaften der ecuadorianischen Anden, gedreht von einer der wichtigsten Regisseurinnen des Landes. Den Abschluss macht eine Reise in eine andere Region der Anden, zu den indigenen Völkern Boliviens, die sich das Medium Video als Form der Selbstdarstellung sowie als Aufruf zum Dialog und Handeln zunutze machen.
Handelt es sich bei den Filmen im ersten Programm um relativ geradlinige und explizite Exposés zu Themen, die für die jeweiligen lokalen Gemeinschaften wichtig sind, so verfolgen die Filme des zweiten Programms, Critical Contrasts, einen anderen Ansatz. Diese Kurzfilme verwenden oft montagebasierte Strategien ironischer Gegenüberstellung für ihre Kritik und politischen Kommentare. Im Zentrum steht dabei die Auffassung, dass eine Vor-Ort-Perspektive dazu dienen kann, die massenmedialen Spektakel, Mythen und Fantasien über den Nationalstaat zu demontieren. Die ironischen Effekte und Kontraste liefern Denkanstösse und zeugen von der kritischen Haltung der Filmschaffenden in Bezug auf audiovisuelle Montage und deren potenzielle Wirkung.
Das Programm der 28. Kurzfilmtage wird am 16. Oktober 2024 veröffentlicht.
Der Kurzfilm
Der Kurzfilm ist nicht einfach ein kürzerer Film. Er ist eine eigene Kunstform, die wir mit unserem Festival jährlich in den Fokus stellen.
Der Kurzfilm erscheint in allen Genres und kann unterschiedlich lang – oder eben kurz – sein. Einfachere Produktionswege machen es ihm möglich, den Zeitgeist und Strömungen rasch einzufangen und abzubilden. Der kurze Film kann unterhalten, überraschen, die Gesellschaft analysieren, eine politische Haltung einnehmen oder Einblick in uns fremde Welten geben.
Wir bündeln unsere Kurzfilme in thematischen Programmen oder nach bestimmten Sektionen, wie z.B. unsere Wettbewerbe, und stimmen die Filme und Reihenfolge aufeinander ab. Für den Kurzfilmgenuss gibt es somit nur eine Voraussetzung: die Neugierde, Neues zu entdecken und sich überraschen zu lassen.
Das Festival
Die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur sind das bedeutendste Kurzfilmfestival der Schweiz. Jeden November verwandeln wir die Stadt Winterthur für sechs Tage in eine Kurzfilmmetropole.
An den Kurzfilmtagen gibt es für alle etwas zu entdecken: Wir zeigen sorgfältig zusammengestellte Kurzfilmprogramme zu aktuellen Geschehnissen oder zu Themen, die unseren Kurator:innen unter den Nägeln brennen. Die Wettbewerbsblöcke fühlen den Puls des aktuellen, weltweiten Filmschaffens und die Installationen, Performances und weiteren Specials machen audiovisuelle Formen in ihrer ganzen Vielfalt erlebbar. Ein Rahmenprogramm mit Konzerten, Lesungen und mehr erweitert das Festivalerlebnis.