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Das Leben in den Andenländern ist voller Kontraste und Widersprüche. Die Verhältnisse variieren sowohl zwischen den Staaten als auch innerhalb der Länder stark. Zu den grössten Schwächen der Region gehören extreme Ungleichheit und mangelnde soziale Sicherheit. Das Programm widmet sich dem Spannungsfeld zwischen der jahrhundertealten Realität von Misswirtschaft, Ausbeutung und mangelnder Rechenschaft einerseits und dem Bewusstsein um den unleugbaren Handlungsbedarf andererseits.
Die koloniale Bergbaustadt Potosí: Gesichter von Arbeitern beim Verlassen der Mine. Kinder schauen sich die Standbilder dieser Gesichter an. Bilder einer anderen Zeit?
Open Mountain Maria Rojas Arias / Portugal/Kolumbien 2021 / 25'47" / DCP / Farbe & Schwarz-Weiss / Spanisch / Exp/Doc
19. Juli 1929 in Kolumbien: Eine Gruppe von Schuhmachern kämpft für bessere Arbeitsbedingungen im Land. Sie werden als Bolschewiken von Líbano Tolima bezeichnet. Die Revolution dauerte nur einen Tag und ihre Spuren wurden mehrheitlich ausgelöscht. Doch die Frauen im Dorf und Aura, eine anarchistische Grossmutter, haben das Gefühl, dass die Rebellion fortdauert.
Eine intime visuelle Reise durch ein Mega-Gebäude in Santiago, wo Migrant:innen ihre Tage aufgrund der Pandemie auf engstem Raum eingesperrt verbringen.
Zuerst Farbbomben, dann Krawalle. Tweets verkünden, was zu tun ist. Der Widerstand ist allgegenwärtig. Irgendwas muss geschehen. Zwei junge Aktivisten begegnen sich in turbulenten Zeiten. Sie tanzen. Die Stadt gehört ihnen.
Interferencia Juan Carlos Soto Martínez / Chile 2020 / 11'51" / DCP / Farbe / Spanisch / Doc
Eine Dokumentarfilmerin recherchiert ein bizarres Verbrechen, das sich vor 47 Jahren zugetragen hat. Doch der Ausbruch der Covid-Pandemie unterbricht ihre Nachforschungen. In der Isolation der Quarantäne spekuliert sie über mögliche Lösungen des mysteriösen Falls.
Die Anden erstrecken sich von Argentinien, wo sie als natürliche Grenze zu Chile fungieren, nordwärts durch Bolivien, Peru, Ecuador und Kolumbien, wo sie sich dreifach verzweigen, wobei einer der drei Zweige bis nach Venezuela reicht. Die acht kuratierten Programme unseres Grossen Fokus sind das Resultat einer umfassenden audiovisuellen Recherche über dieses riesige Gebiet. Los Estados Andinos präsentiert ein Panorama der politischen, sozialen und kulturellen Szene dieser sieben Länder, wobei die Eigenheiten und Traditionen jeder Nation ebenso beleuchtet werden wie die Gemeinsamkeiten und kollektive Identität.
Die lateinamerikanische Filmindustrie, und spezifisch jene der Andenregion, wuchs mit der wirtschaftlichen Kapazität und dem Investitionswillen der jeweiligen Länder. Das Filmschaffen stand zudem stets in direktem Zusammenhang mit sozialen und politischen Turbulenzen, sowohl in der Region selbst als auch unter dem Einfluss externer Ereignisse. Auf die Ankunft des Kinos um 1896 folgt seine langsame Verbreitung, doch erst in den 1940er und 50er Jahren beginnt die einheimische Produktion zu blühen, nachdem die Staaten Gesetze zur Filmförderung erlassen haben. Insbesondere Argentinien sticht diesbezüglich hervor. Nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Einfluss der kubanischen Revolution entsteht eine neue Kinokultur, die rasch politisiert wird. Filmschaffende lassen sich in dieser Zeit von unterschiedlichsten – vor allem ausländischen – Quellen inspirieren, was eine Phase der Experimente einläutet.
Die 1960er und 70er Jahre waren entscheidend: Angefacht von Volksbewegungen, die kulturelle, politische und wirtschaftliche Autonomie forderten, entstand in einem postkolonialen Kontext die neue lateinamerikanische Filmbewegung, die einen Bruch mit der etablierten Filmpraxis brachte. Die Bewegung wollte die Realitäten Lateinamerikas mit allen ihren Kontrasten aufzeigen und stellte neue, bis anhin ignorierte Themen in den Mittelpunkt, wie etwa das kollektive Gedächtnis der Ausgegrenzten. Es war eine hochkritische Bewegung, die sich gegen das Establishment und den Mainstream wandte und ein Kino anstrebte, das soziopolitische Veränderungen auslösen konnte. Es führte zunächst vor allem in Argentinien und Chile zu einer fruchtbaren Produktion, bevor es sich in der Region weiterverbreitete, vor allem nach Kolumbien, Ecuador und Venezuela. Gleichzeitig bildeten sich mehrere nationale Strömungen heraus, die ein autochthones Autorenkino anstrebten.
In den späten 1970er Jahren kam es mit dem Aufstieg von Diktaturen und schwindenden Finanzmitteln zu einem Rückgang der Filmproduktion in der Region. Viele Filmschaffende gingen ins Exil und arbeiteten im Ausland weiter. Die 1980er waren eine Zeit der Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung und prekärer Distributionskanäle. Seit den 1990ern erleben verschiedene Filmindustrien wieder ein beachtliches Wachstum und kreative Wellen, insbesondere in Argentinien, das zu Recht als führende Kraft in der Region gilt, aber auch in Chile und Kolumbien. Das Filmschaffen von Bolivien, Peru und Ecuador wiederum wird zwar oft vernachlässigt, doch entstehen auch in diesen Ländern relevante Werke, die das Leben indigener Gruppen in der heutigen Zeit beleuchten.
Wir sind uns der enormen Vielfalt der Region und der Eigenheit der einzelnen Länder bewusst. Wir wollen diese keinesfalls homogenisieren oder ihre Erfahrungen miteinander gleichsetzen. Stattdessen möchten wir mit unserer Auswahl den Multikulturalismus dieser Nationen und gleichzeitig ihre gemeinsamen Erfahrungen im Laufe der Geschichte aufzeigen. Entsprechend sind die Programme nicht nach Nationen, sondern thematisch strukturiert.
Drei Programme widmen sich den soziopolitischen Verhältnissen in den Andenländern. Während zwei davon, Working the Land und Critical Contrasts, eine historische Perspektive einnehmen, fokussiert Andean Paradox auf die Gegenwart und den zunehmenden Willen in der Gesellschaft, sich Handlungsmacht zurückzuerobern. Das Programm Tierra vital ist eine Reise durch Landschaften, welche die kulturellen Praktiken, Identitäten und Vorstellungen der Bevölkerung prägen. Es geht um den Zusammenhang zwischen Ort und Zughörigkeitsgefühl. Family Comes First widmet sich – wie der Titel besagt – der Bedeutung der Familie, den Konflikten und Bindungen zwischen Familienmitgliedern. Queere Erfahrungen und körperliche Selbstbestimmung erhalten im Programm Free Your Mind, Free Your Body ein Fenster. Die Programme Stories of the Uncanny und Blurred Lines spiegeln sich gewissermassen: In ersterem dient der Animationsfilm als Medium, um schwierige, seltsame und scheinbar disparate Themen zu beleuchten, die gleichzeitig anziehend und abstossend wirken. Letzteres ist vom magischen Realismus inspiriert, wo Spuren des Übernatürlichen im Alltäglichen auftauchen – ein atmosphärisches Programm, in dem sich Realität und Magie vermischen.
Die Anden sind eine facettenreiche Region, die von einer geheimnisvollen und mystischen Aura umgeben ist. Als kolumbianische Kuratorin, die mehrere Jahre in Europa gelebt hat, bin ich mir der vielfältigen Assoziationen bewusst, die mit dem Begriff «Lateinamerika» verbunden sind. Viele betrachten uns mit Sehnsucht und Verlangen, einige mit Angst. Während uns die einen mit ehrlicher Neugier begegnen, wollen andere unsere Länder ausbeuten. Wir gelten auch als unglaublich offene und warmherzige, glückliche und liebevolle Menschen, die allen mit offenen Armen begegnen. Unsere Staaten hingegen werden meist mit politischer und sozialer Instabilität assoziiert – ein Urteil, das dann mit der Schönheit der Bevölkerung und den majestätischen und vielseitigen Landschaften der Region kontrastiert wird. Trotzt der Stereotypen und der Bilder, die wir hervorrufen, sind wir zweifellos eine plurikulturelle und multiethnische Region, die sich ein Gebiet und eine koloniale Vergangenheit teilt, aber gleichzeitig unterschiedliche Länder mit ihren je eigenen, komplexen politischen und sozioökonomischen Realitäten umfasst.
Text: Mariana Bonilla Rojas Kuratiert von Mariana Bonilla Rojas, John Canciani, Laura Walde, Federico Windhausen
Andean Paradox
Das Leben in den Andenländern ist voller Kontraste und Widersprüche. Die Verhältnisse variieren sowohl zwischen den Staaten als auch innerhalb der Länder stark. Zu den grössten Schwächen der Region gehören extreme Ungleichheit und mangelnde soziale Sicherheit. Die Migration nimmt in vielerorts zu. Die Menschen sind auf der Suche nach besseren Verhältnissen; die meisten migrieren aufgrund von Gewalt und fehlender Perspektiven. Im Laufe der Geschichte hat die Region zahlreiche korrupte, populistische, autoritäre und diktatorische Regierungen sowie politische und soziale Turbulenzen erlebt.
Das Spannungsfeld zwischen der jahrhundertealten Realität von Misswirtschaft, Ausbeutung und mangelnder Rechenschaft einerseits und dem Bewusstsein um den unleugbaren Handlungsbedarf andererseits steht hinter der Filmauswahl in Andean Paradox.
Das Programm beginnt mit «Pithole» über die Minenarbeiter von Cerro Rico de Potosí, eine der gefährlichsten und heruntergekommensten Minen der Welt, die wir hier in von Kindern erzählten Geschichten und Legenden sehen. Revolutionäre Frauen in einem Territorialkonflikt bilden die Inspiration für die historische Nacherzählung in «Open Mountain». «Vertical Shadow» porträtiert migrantische Erfahrungen während des Lockdowns. Eine fiktionalisierte Romanze in Zeiten des Aufruhrs gibt den Ton an für «#YA». In «Interferencia» treffen Vergangenheit und Gegenwart bei der Untersuchung eines ungeklärten Kriminalfalls aufeinander. Und «Alerta . Alerta . Alerta» schliesslich begleitet eine Demonstration für Frauenrechte.
Die Andenstaaten sind bevölkert von Menschen mit einem neu erwachten Gerechtigkeitssinn und Geist des Widerstands. In jüngster Zeit, verschärft durch die Covid-Pandemie, hat die Region einen Aufschwung sozialer Bewegungen erlebt, die ein gemeinsames Ziel verfolgen und sich gegen das Establishment richten. Es gibt einen unleugbaren Willen, die Gesellschaft zu verändern und an ein neues System zu glauben, das auf kollektiver Autonomie und Solidarität basiert. Dies hat zunehmende Spannungen zwischen rebellierenden Kräften und etablierten Institutionen zur Folge. Konflikte nehmen zu, weil die Menschen die immergleichen Geschichten satthaben und bereit sind, sich zu erheben.
Kuratiert von Mariana Bonilla Rojas und John Canciani
Die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur sind das bedeutendste Kurzfilmfestival der Schweiz. Jeden November verwandeln wir die Stadt Winterthur für sechs Tage in eine Kurzfilmmetropole.
An den Kurzfilmtagen gibt es für alle etwas zu entdecken: Wir zeigen sorgfältig zusammengestellte Kurzfilmprogramme zu aktuellen Geschehnissen oder zu Themen, die unseren Kurator:innen unter den Nägeln brennen. Die Wettbewerbsblöcke fühlen den Puls des aktuellen, weltweiten Filmschaffens und die Installationen, Performances und weiteren Specials machen audiovisuelle Formen in ihrer ganzen Vielfalt erlebbar. Ein Rahmenprogramm mit Konzerten, Lesungen und mehr erweitert das Festivalerlebnis.
Der Kurzfilm ist nicht einfach ein kürzerer Film. Er ist eine eigene Kunstform, die wir mit unserem Festival jährlich in den Fokus stellen.
Der Kurzfilm erscheint in allen Genres und kann unterschiedlich lang – oder eben kurz – sein. Einfachere Produktionswege machen es ihm möglich, den Zeitgeist und Strömungen rasch einzufangen und abzubilden. Der kurze Film kann unterhalten, überraschen, die Gesellschaft analysieren, eine politische Haltung einnehmen oder Einblick in uns fremde Welten geben.
Wir bündeln unsere Kurzfilme in thematischen Programmen oder nach bestimmten Sektionen, wie z.B. unsere Wettbewerbe, und stimmen die Filme und Reihenfolge aufeinander ab. Für den Kurzfilmgenuss gibt es somit nur eine Voraussetzung: die Neugierde, Neues zu entdecken und sich überraschen zu lassen.