Ägypten ist ein Land der Superlative. Es blickt nicht nur auf eine jahrtausendealte Kulturgeschichte zurück, sondern hat mit der Megacity Kairo auch eine der grössten Metropolen der Welt und wird vom längsten Fluss der Erde durchflossen. Der Nil schlängelt sich vom Süden des Landes in den Norden und hat schon immer eine wichtige Rolle in der Kultur des Landes gespielt. Die atemberaubende Schönheit der Landschaften hat in unzähligen Filmen ihren Niederschlag gefunden. Denn kaum war das Kino erfunden, begannen die Ägypter:innen, Filme zu realisieren. Ab 1896 boomte die Filmindustrie am Nil und hat unzählige erfolgreiche Regisseur:innen und Schauspielstars hervorgebracht, von denen einige internationale erfolgreich waren, wie etwa der Schauspieler Omar Sharif (1932–2015). Neben der Baumwollindustrie war die Filmindustrie Mitte des 20. Jahrhunderts der wichtigste Wirtschaftszweig. Die Filme werden bis heute mehrheitlich im ägyptisch-arabischen Dialekt gedreht, dem Ammaya, und sowohl im Maghreb als auch im Maschrek gezeigt. Dadurch wurde Ammaya zur Lingua Franca der Region – den ägyptischen Dialekt verstehen alle. Und die Ägypter:innen liebten das Kino. Familienausflüge in die dunklen Kinosäle bis spät in die Nacht waren selbst mit Kleinkindern üblich, während draussen die Kassen klingelten. Die Produktionsfirmen investierten einen Teil ihrer beachtlichen Gewinne in neue Filme, und so lief das Filmgeschäft wie ein Perpetuum mobile. Die Filme wurden unter realen Marktbedingungen gedreht, und da Kurzfilme keine Gewinne einbringen, gab es sie kaum. Eine staatliche Filmförderung gab es nicht.
Kurzfilme bieten immer eine gewisse Narrenfreiheit. In Ägypten handelt es sich dabei entweder um erste Regieversuche, meist an Filmhochschulen, die allerdings der Zensur unterliegen, oder um Experimente von bekannten Regisseur:innen. Dazu gehört der international bekannte Regisseur Youssef Chahine, der mit «Cairo As Seen by Chahine» (1991) einen der ersten kritischen ägyptischen Kurzfilme realisierte. Zwischen Dokumentation und Fiktion wirft er einen ungeschönten, aber liebevollen Blick auf seine Stadt und inszeniert sich selbst als Filmemacher, der mit seinen Studierenden einen Auftragsfilm realisieren soll. Der Film war in Wahrheit ein französischer Auftragsfilm. Bei der Premiere in Cannes wurde er gefeiert, in Ägypten hingegen verboten: Er würde das Land in ein schlechtes Licht rücken. Im Kairo der 1990er-Jahre waren VHS-Kopien des Films unter der Hand im Umlauf.
Als 2011 der arabische Frühling begann, revolutionierte sich nicht nur die Musikindustrie, welche die immer gleichen Liebeslieder hinter sich liess, um soziale Themen zu besingen. Die Strassen waren voller Theater und Konzerte, und im Film war plötzlich alles möglich. Ohne Drehbewilligung wurde gefilmt, was das Zeug hielt. Es entstand eine neue Szene von Filmschaffenden, die mit dem nun erschwinglichen digitalen Equipment Stile ausprobierten, soziale Ungerechtigkeiten dokumentierten und Themen aufgriffen, über die bisher nicht gesprochen wurde. Dabei ging es nicht so sehr um die Qualität als vielmehr um die Sache selbst. In «The Elevator» (2012) erzählt Regisseurin Hadeel Nazmy die Geschichte einer jungen Frau, die in einem Aufzug stecken bleibt und in ihrer misslichen Lage sexuell belästigt wird. Der Film wurde bisher über 4,3 Millionen Mal auf YouTube angeklickt.
Doch mit der Machtübernahme der neuen Regierung im Jahr 2013 fand der kreative Aufbruch am Nil ein jähes Ende. Das politisch repressive Umfeld ist dem innovativen Filmemachen nicht förderlich und bringt viele Regisseur:innen dazu, sich entweder selbst zu zensieren oder stereotype Actionfilme und Komödien zu drehen. Ein Grossteil der Bevölkerung lebt heute unter der Armutsgrenze und viele können sich einen Kinobesuch nicht mehr leisten. Sie bleiben zu Hause und schauen Filme auf Streaming-Plattformen wie Netflix oder Shahid. Das grosse Kinopublikum bleibt aus, was die Gewinne der Produzent:innen und somit ihre Investitionsbereitschaft schmälert, was wiederum die Menge der Filmproduktion verringert.
Trotzdem – oder gerade deshalb – boomt der Kurzfilm. Niemand ist dabei so etabliert wie Regisseur Morad Mostafa, der mit seinen qualitativ hochstehenden Werken den internationalen Filmgeschmack trifft und seine Filme auf Hunderten von Festivals zeigt. Die meisten Kurzfilme entstehen jedoch nach wie vor mit kleinem oder gar keinem Budget und bleiben auch meist unter dem Radar der Zensur. «As I Open My Eyes» (2024) von Ghazzal Abdullah erzählt von den Bulldozern, denen Gebäude und Bäume in den StädtenÄgyptens zum Opfer fallen. Der Film behandelt das hochaktuelle Thema experimentell und bietet den Behörden so kaum Angriffsfläche.
Heute gibt es einige private Initiativen, die Filmworkshops anbieten. Zudem bietet die Entwicklung der Technik, insbesondere die zunehmende Qualität der Handykameras, viele Möglichkeiten, Filme in einem schwierigen, aber interessanten Umfeld zu realisieren. Man darf gespannt sein, was die Zukunft bringt.
Sandra Gysi, Ahmed Abdel Mohsen
22 MillionDer Nil wird als Lebensader Ägyptens bezeichnet: Entlang seinen Ufern ist die Erde fruchtbar, er verbindet die Metropolen des Landes seit der ägyptischen Hochkultur, die vor tausenden von Jahren entstand. Heute leben gut 95 % der ägyptischen Bevölkerung auf dem schmalen Streifen Land entlang des Flusses, der nur rund 5 % der Landfläche ausmacht. Der Rest ist Wüste, so weit das Auge reicht. Die meisten Menschen in Ägypten, dem bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt, leben in Städten. Das Leben pulsiert, die Platzverhältnisse sind eng, die Gemeinschaft zentral – und manchmal auch überwältigend. Die fünf Filme in 22 Million sind keine Postkartenfilme, die eine für den globalen Norden exotische Lebensweise anpreisen, sondern eine ehrliche Auseinandersetzung von ägyptischen Filmschaffenden mit ihren Städten und ihren Landsleuten. Es sind Liebeserklärungen an die Metropolen, aber auch ungeschönte Blicke auf die Herausforderungen, die das Leben auf engem Raum mit sich bringt. Die Klischees, die westliche Zuschauer:innen allenfalls erwarten, werden verweigert.
In keinem Werk kommt das so klar zum Ausdruck wie im Programmauftakt mit einem Kurzfilm des weltberühmten Regisseurs Youssef Chahine (geboren 1926 in Alexandria, verstorben 2006 in Kairo). In «Cairo As Seen by Chahine», ursprünglich ein Auftragsfilm des französischen Fernsehens, mokiert sich Chahine mit seinen Filmstudierenden explizit über die Erwartungen des Auftraggebers an einen ägyptischen Film. Gleichzeitig sind dies auch die Anforderungen, die der ägyptische Staat an die Darstellung des Landes für ein ausländisches Publikum stellt. Bei der Premiere in Cannes 1991 empfanden drei ägyptische Kritiker den Film als beleidigend – er vermittle mit Bildern von Armut, Verkehr und engen Platzverhältnissen in Kairo einen falschen Eindruck von Ägypten. Daraufhin forderte die ägyptische Zensurbehörde, dass bestimmte Szenen herausgeschnitten würden. Chahine weigerte sich und der Film wurde verboten. Der Kurzfilm ist eine Liebeserklärung an die vielen Individuen, die in dieser Stadt ihr Leben bestreiten.
«Cairography» entstand aus einem Workshop mit Tänzer:innen, die sich mit ihrer Beziehung zu den Strassen Kairos auseinandersetzten. Jeder Tanz wurde auf der Strasse aufgeführt und mit einer versteckten Kamera gefilmt, um möglichst ehrliche Reaktionen von der Umgebung zu erhalten. Die Tänzer:innen haben sich so die Strasse zu eigen gemacht und öffentlichen Raum für sich reklamiert. Das Persönliche und das Öffentliche treffen aufeinander und müssen stets neu verhandelt werden.
Das gilt auch für die Menschen in den historischen Ruinen von Fustat in der Kairoer Altstadt. «Al’Maw’oud» zeigt die Spannungen zwischen von der Regierung eingesetzten Wächtern und der Bevölkerung einer nahe gelegenen informellen Siedlung, für die das Areal Abkürzung, Spielplatz, Gelegenheit zur Plünderung und erweitertes Wohnzimmer in einem ist.
In «As I Open My Eyes» fängt die junge Filmemacherin Ghazzal Abdullah mit ihrer Kamera die urbane Metamorphose Kairos ein. Ein persönlicher Film, der unterstreicht, dass jede Erzählung und jede Erinnerung subjektiv geprägt ist. Eine Millionenstadt aus Millionen von Individuen.
Heute gibt es gut 110 Millionen Ägypter:innen, 2009 waren es rund 80 Millionen. Der Film «80 Million» der Künstler Mohamed Zayan und Eslam Zeen El Abedeen ist ein perkussiver Dialog, teils Tribut, teils Elegie für ihre Landsleute.
Curated by Laura Walde and Senta van de Weetering
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