Im Rahmen des diesjährigen Grossen Fokus: Beyond the Frame spannen die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur mit der Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» zusammen und ermöglichen so eine unvergessliche Begegnung zwischen zwei bekannten Grössen der Winterthurer Kulturlandschaft.
Der Grosse Fokus ist im Spannungsfeld zwischen den Disziplinen Bildende Kunst und Film angelegt. Werke aus der Sammlung «Am Römerholz» dienten dabei als Inspiration. Die ehemalige Villa des Kunstsammlers Oskar Reinhart (1885–1965) vereint mehr als 200 Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen europäischer Kunst. Den Kern der Sammlung bilden Gemälde des französischen Impressionismus und dessen unmittelbare Vorläufer, ergänzt durch bedeutende Beispiele älterer Kunst.
Die Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» endet ungefähr da, wo das Medium Film entsteht und sich weltweit verbreitet. Unser Ziel ist, die Grenzen der beiden Disziplinen aufzubrechen und Kurzfilmprogramme in einen Dialog mit den Kunstwerken aus der Sammlung zu bringen. In der ersten Phase des Projektes behandelten wir in regem Austausch mit der stellvertretenden Leiterin des Museums, Katja Baumhoff, einzelne Werke exemplarisch, um mögliche Themencluster für ein gemeinsames Format zu etablieren. In der Auseinandersetzung mit den inhaltlichen und formalen Aspekten dieser Exponate wurden künstlerische Konzepte aus der Bildenden Kunst herausgearbeitet und auf das Medium Film übertragen. Es ging uns nicht darum, transmediale Abbilder aufzuspüren oder Historisches neu aufzuarbeiten. Uns überraschte vielmehr die Tatsache, dass in diesen bis ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Bildern viele zeitgenössische Themen zu entdecken sind, die unseren Blick auf die Gegenwart bereichern. Einige dieser von uns eruierten Verbindungen sind eher assoziativ, andere direkter. Wir laden euch hiermit ein, in diesen Dialog einzusteigen und ihn – mit uns zusammen – auch weiterzuspinnen. Wir legen euch zudem ans Herz, die Kunstwerke vor Ort in der Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» zu betrachten: für einen inspirierenden Austausch, der nicht nur am Festival stattfinden soll, sondern auch vor den Originalen.
Rund zehn Filmprogramme sind aus dieser interdisziplinären Verflechtung entstanden, woraus wir sechs im Rahmen der diesjährigen Kurzfilmtage präsentieren. Die Programme können als filmische Interpretation, Auseinandersetzung oder Ergänzung verstanden werden. Darin steckt das Herzblut von Film- und Kunstschaffenden, Kurator:innen sowie Film- und Kunstwissenschaftler:innen.
In Landscapes of the Mind verschwimmt die Grenze zwischen der eigenen Gedankenwelt und der Aussenwelt – das Innere wird sichtbar gemacht und findet in verschiedenen filmischen Formen Ausdruck. I Want to Break Free thematisiert Machtstrukturen und Machtungleichgewichte: Die Auswahl hinterfragt, begehrt auf und präsentiert Formen des künstlerischen Widerstands. Die Filme in Puzzle Me erzählen nicht konventionell linear, sondern mäandern, schlingern und sind voller Geheimnisse, die es zu entschlüsseln gilt. Filmische Porträts erforschen in Look at Me das Ich, seine Inszenierung vor der Kamera und das ewige Spiel von Darstellung und Selbstdarstellung. Ghosts of Objects experimentiert mit filmischen Motiven wie Leben und Tod, Bewegung und Erstarrung und erzählt dabei Geschichten, die über sich selbst hinausweisen. Unsere Filmauswahl in He’s Got the Look kreist um die Objektifizierung des Mannes – teilweise ernst, teilweise mit ei-nem Augenzwinkern – und lässt uns hinter die Fassade von Stahlkörpern und Sixpacks blicken.
Unser Grosser Fokus: Beyond the Frame soll eine transmediale visuelle Reise wagen, zur Reflexion über den gesellschaftlichen Wert von Kunst anregen und ein Verständnis für kulturelle Vielfalt sowie künstlerische Ausdrucksformen fördern. Ferner will die Auswahl einen Dialog anregen, der weit über den zeitlichen Rahmen der Werke hinausgeht und historische sowie zeitgenössische Diskurse reflektiert.
Kuratiert von John Canciani und Ivana Frigo
Nicht wenige Kunstwerke in der Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» kreisen um die mentale Gesundheit. Der Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt gehörte zu den aktivsten Phasen des holländischen Malers Vincent van Gogh. Rastlos schuf er dort zahlreiche Werke, darunter auch
«Der Krankensaal des Hospitals von Arles», das in der Sammlung «Am Römerholz» zu sehen ist. Das Gemälde behandelt das Thema auf Ebene der Bildkomposition und gibt Hinweise auf die Verfassung des Malers selbst: Die räumliche Perspektive und die Linienführung lenken das betrachtende Auge auf eine Türe im Hintergrund des langgezogenen schmalen Raumes, die unendlich fern und unerreichbar scheint.
Filmische Werke visualisieren häufig Gefühlswelten und bedienen sich dazu verschiedenster Stilmittel. Die visuelle Darstellung von Emotionen besitzt dabei starke narrative beziehungsweise semantische Qualitäten. Unsere ausgewählten Filme sind von einer Suchbewegung geprägt – der Suche nach Antworten, nach sich selbst und nach Ausdrucksmöglichkeiten für Schmerz, Wut, Einsamkeit. Die Innenwelt der Protagonist:innen gewinnt dabei die Oberhand über die Aussenwelt. Das Ringen um Kontrolle schlägt sich auch in der filmischen Ästhetik nieder, sucht geeignete Formen, um der inneren Dringlichkeit Ausdruck zu verleihen.
In «The Spiral» hat die Protagonistin eine Panikattacke und verstrickt sich dabei schnell in ein Labyrinth von Angst, Isolation und Entfremdung. «Il faut regarder le feu ou brûler dedans» begleitet eine feuerliebende Frau inmitten von verheerenden Waldbränden. «Sieben Mal am Tag beklagen wir unser Los und nachts stehen wir auf, um nicht zu träumen» ist ein filmisches Andachtsbuch, basierend auf der Geschichte eines Erwerbsunfähigen aus Ostdeutschland, der 1989 sein Gedächtnis verloren hat. Der Weltuntergang naht in «It’s Raining Frogs Outside», wo Maya in ihre philippinische Heimatprovinz zurückkehren muss und sich alles zunehmend zu einem schrägen Fiebertraum verdichtet. In «Hideous» ist der Popstar Oliver Sim Ehrengast einer Talkshow, die bald zu einem irrwitzigen Reigen von Liebe, Schmach und Blut ausartet.
In diesen Filmen verschwimmt die Grenze zwischen der eigenen Befindlichkeit und der Umwelt – das Innere wird nach aussen getragen, sichtbar gemacht, künstlerisch verarbeitet. Die Wirklichkeit der Protagonist:innen spiegelt den eigenen Gemütszustand und innere Kämpfe, was in einem Strudel bizarrer Ereignisse mündet.
Kuratiert von John Canciani und Ivana Frigo