Der Umgang mit der Erinnerung, die Reflexion über Identität(en), innerfamiliäre Beziehungen und Grenzen im geografischen wie mentalen Sinn sind vier gewichtige und höchst komplexe Themenfelder in einem Land wie Israel. Die Kurzfilme im Land im Fokus: Israel beschäftigen sich mit Fragen, die tief in die Geschichte und Gegenwart des noch immer jungen Landes hineinleuchten: in die historischen Voraussetzungen seiner Existenz, den Umgang mit allgegenwärtigem Konflikt an mehreren Fronten gleichzeitig, die Militarisierung des Alltags und die Verhältnisse in den Familien in einem solchen Umfeld. Die Bedrohung in einem Krieg nach dem anderen, die Neugier, die Annäherung oder auch Identifikation mit dem «Feind» und die Frage nach dem Stellenwert von Religion sind prägende Themenfelder des israelischen Kinos, insbesondere seit der Jahrtausendwende. Neben Joseph Cedar, Ari Folman, Amos Gitai und Nadav Lapid ist Avi Mograbi diesbezüglich einer der kompromisslosesten Filmemacher, der im Unterschied zu vielen der (ebenfalls) erfolgreichen Kollegen weiterhin auch Kurzfilme realisiert. In «Detail 2 & 3» zeigt er die aus Nachrichtenmeldungen und TV-Reportagen bekannte, zu einem zentralen Bildtopos des Konflikts zwischen Israel und Palästina kristallisierte Checkpoint-Szene in zwei Versionen; indem der Filmautor die Soldaten zur Reaktion zwingt, sie auch anbrüllt, überschreitet er die Grenze des (beobachtenden) Dokumentarfilms, wird zum Akteur in der durch die Kamera zusätzlich provozierten Handlung. Die kritische und oft schonungslose Auseinandersetzung mit der offiziellen Politik und Kriegsführung des Staates Israel ist im israelischen Filmschaffen seit den 1970er Jahren zunehmend stark vertreten, mit auch international beachteten jüngeren Filmen seit 2007 wie «Lebanon», «Waltz with Bashir», «Foxtrot», «Ajami» oder Serien wie «Chatufim/Homeland» und «Fauda». Während die Langfilme (oder Serien) indes meist eine mehr oder weniger klassische Spielfilmnarration wählen, sprengen die hier gezeigten Kurzfilme immer wieder nicht nur die Grenzen von Filmgattungen, sondern untersuchen die Potenziale neuer digitaler Medien als kreative Quellen, zum Beispiel Google Maps oder Tinder («Unrendered Road», «The Men behind the Wall»). Digitale Rekonstruktionen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau wiederum eröffnen der Geschichtswissenschaft und den Justizverfahren, aber auch Reinkarnationsvorstellungen neue Wege («Another Planet»).
In der israelischen Kurzfilmszene ist gleichzeitig mit der Digitalisierung eine intensive Auseinandersetzung mit analogem Bildmaterial zu beobachten. Interessanterweise waren auch die ersten im Staat sowie bereits vor der Staatsgründung entstandenen Filme Kurzfilme: dokumentarische Aufnahmen. Nach den Brüdern Lumière, die noch in osmanischer Zeit «Départ de Jérusalem en fer» produzierten, dominierten neben ethnografischen Aufnahmen christlicher Pilger:innen bis in die 1950er Jahre Kurzfilme, die im Auftrag von zionistischen Organisationen entstanden und mit dem Zweiten Weltkrieg die Notwendigkeit eines sicheren Staates für Juden betonten. Einwanderer aus der Sowjetunion wie etwa Nathan Axelrod und Engländer wie Murray Rosenberg oder Thorold Dickinson formten die Bildsprache des neuen, stolzen (vom Shtetl losgelösten) Hebräers – den maskulinen Helden. Die Erinnerung an diese Metaphorik ist in den 16-mm-Rollen zur Lechi-Bewegung anzutreffen, die Nir Evron in «Belated Measures» in digitalisierter Form wiedergibt und ausführlich bespiegelt, wobei er das Spannungsfeld zwischen Dokumentation, Reenactment und Fiktionalisierung aufzeigt.
Die Befragung nationaler Narration(en) ist ein wiederkehrendes Motiv im israelischen Filmschaffen; die divergierenden Erzählungen, Herleitungen und Begründungen kristallisieren sich unter anderem an symbolisch aufgeladenen Orten wie dem Haus am Rothschild-Boulevard in Tel Aviv, wo Ben Gurion den Staat ausgerufen hat, oder an Gegenständen, wie sie Yael Bartana in ihren Kunstvideos inszeniert. An Matthias von Guntens unvergessliche Schweizer «Reisen ins Landesinnere» wiederum erinnert der Ausflug in den Miniatur-Park von Israel («My Little Country»). Was die Erzählung vom starken, neuen Hebräer lange verdrängte, waren die Traumata der jüdischen Einwanderer, die der Verfolgung entrinnen konnten oder die Shoah in einem KZ oder versteckt überlebt hatten. Der Eichmann-Prozess spielte eine wichtige Rolle dabei, dass diese Erfahrungen in Israel erstmals öffentlich diskutiert wurden. Der Massenmörder wurde zum Tode verurteilt – doch jemand musste seine Asche ausserhalb des Landes bringen; «Nacht und Nebel», eine klare Anspielung auf den Film von Resnais, zeigt das ferne Echo, wie eine Coda.
Private Fotoaufnahmen und alte Home Movies wiederum sind heute in vielen Dokumentarfilmen weltweit ein beliebtes Material, um Familiengeschichte mit kollektiver Geschichte zu verbinden. Breit international rezipiert wurde in jüngerer Zeit der israelisch-deutsche Film «Die Wohnung» von Arnon Goldfinger, aber auch im Kurzfilm sind solche Recherchen rege im Gang. Meshy Koplevitch («73») und Rotem Dimand («The Silhouette of Braids») sind zwei jüngere Filmemacherinnen, die sich mit der Vergangenheit ihres Vaters bzw. ihrer Mutter auseinandersetzen. Parallel dazu nehmen sich nach der LGBTQ-Szene, die unter anderem mit Eytan Fox’ und Tomer Heymanns Filmen seit 2002 in den israelischen Mainstream Eingang gefunden hat, auch die Frauen in der noch immer maskulin dominierten israelischen Gesellschaft und Kunst ihren Raum. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Familie als Gesamtgefüge einem zunehmenden Fokus auf die Beziehung zwischen den Müttern und Töchtern weicht. Denn der Druck auf die Frauen ist gross – von ihnen wird bisher und weiterhin erwartet, vor allem gute Mütter zu sein bzw. zu werden. Dass es zum Beispiel auch lesbische Lebensentwürfe geben könnte («Bracha», «One of Us Now»), wird vorzugsweise ignoriert, als irrelevant erklärt oder tabuisiert.
Bettina Spoerri
BorderlineAm 14. Mai 1948, als die britische Mandatsmacht aus Palästina abzog, erklärte Ben Gurion Israel zum unabhängigen Staat. Für die verfolgten Juden und Jüdinnen ging so nach der Shoah ein lang ersehnter Traum in Erfüllung. Für die arabische Bevölkerung im Land war es die Katastrophe, die «Nakba». Der Konflikt zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung hatte sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts zugespitzt, als die zionistische Bewegung erstarkte und sich immer mehr Juden, die von Freiheit und Sicherheit in einem neuen Land träumten, auf dem ehemaligen Mandatsgebiet ansiedelten. Die Gründung des Staates Israel war ein historischer Moment, der die Politik in Nahost tiefgreifend verändern würde.
Mit der Staatsgründung wurde der Konflikt in der Region zum «Palästinakrieg», und viele weitere Grenzkriege, Attentate und Militäroperationen folgten. 1964 wurde die PLO (Palestine Liberation Organization) gegründet, die den Staat Israel als illegal betrachtet und ihm das Existenzrecht aberkennt. 1987 folgte die Gründung der Hamas mit denselben Grundsätzen, und 1988 erklärte der Staat Palästina seine Unabhängigkeit. Es entstanden palästinensische Autonomiegebiete, bestehend aus dem Gaza-Streifen, heute von der Hamas regiert, und diversen Sektoren im Westjordanland, der Westbank.
Der Titel Borderline bezieht sich zum einen auf die geografischen Grenzlinien, zum anderen auf den Begriff Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die typischen Symptome dieser psychischen Erkrankung sind Impulsivität, instabile, aber intensive zwischenmenschliche Beziehungen, rasche Stimmungswechsel und ein schwankendes Selbstbild aufgrund gestörter Selbstwahrnehmung. Effekte, die auch im Nahost-Konflikt erkennbar sind, denn es herrscht eine schier unüberblickbare Situation mit starken Emotionen und Reaktionen auf allen Seiten. Dieses Filmprogramm will weder einseitig Partei ergreifen noch sich vermessen, Lösungen anzubieten – zu komplex ist die Situation. Doch wie leben die Menschen mit den Grenzen? Das Programm geht dieser Frage nach und zeigt fünf Filme über den täglichen Umgang mit der Situation, wo es viele Grauzonen zwischen simplem Schwarz und Weiss gibt.
Kuratiert von John Canciani und Gabriela Seidel-Hollaender
Mit freundlicher Unterstützung von: