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Normen und Ideale werden selten so öffentlich und direkt ausgedrückt wie in Bezug auf unsere Körper. Soziale Medien dienen dabei als Kanäle, um diese Normen zu manifestieren, gleichzeitig bieten sie vielen Menschen aber auch eine Gelegenheit zur performativen Selbstdarstellung und Ermächtigung. Free Your Mind, Free Your Body zeigt vier Filme mit Protagonist:innen, die sich den Vorstellungen einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft mal mehr, mal weniger aktiv widersetzen und so nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Identität von repressiven Normen befreien.
Im Anschluss an das Screening vom Sonntag findet ein Gespräch zum Thema Körper- und Gendernormen im Kontext der traditionellen Gesellschaftsstrukturen der Andenländer statt
Son of Sodom Theo Montoya / Kolumbien 2020 / 15' / DCP / Farbe / Spanisch / Doc
«Im August 2017 wählte ich Camilo Najar, in den sozialen Netzwerken als Son of Sodom bekannt, als Hauptfigur für meinen ersten Langfilm. Das Casting drehte sich um sein Leben, seine Sexualität, seine Zukunft und Drogen. Eine Woche später starb er im Alter von 21 Jahren an einer Heroin-Überdosis. Wer war Son of Sodom?»
Axel (23) spart für eine Geschlechtsumwandlung. Bastian (24) hadert mit seinem Drag-Alter-Ego, Anna Balmanica. Alfonso (22), ein junger Student aus einem armen Quartier, strebt nach einem höheren sozialen Status. Eine Reflexion über den Körper, die Stadt und Segregation. Eine Geschichte aus Fragmenten aus dem Alltag, die die Figuren auf Snapchat teilen.
The Foreign Body Héctor Silva Núñez / Venezuela 2018 / 18'20" / DCP / Farbe / Spanisch / Fic
Jairo ist ein junger indigener Mann aus Venezuela, der ohne Brustwarzen geboren wurde. Von den Traditionen seines Volkes entfremdet, sucht er in der Stadt nach einem männlichen Ideal und nach Zugehörigkeit.
In der kolumbianischen Kaffeeregion trifft das Monster Aribada auf Las Traviesas, einer Gruppe indigener Transfrauen der Emberá. In deren einzigartiger Welt koexistieren Magie, Traum und Performance und schaffen ein Universum, wo sich Dokumentation und Fiktion vermischen.
Die Anden erstrecken sich von Argentinien, wo sie als natürliche Grenze zu Chile fungieren, nordwärts durch Bolivien, Peru, Ecuador und Kolumbien, wo sie sich dreifach verzweigen, wobei einer der drei Zweige bis nach Venezuela reicht. Die acht kuratierten Programme unseres Grossen Fokus sind das Resultat einer umfassenden audiovisuellen Recherche über dieses riesige Gebiet. Los Estados Andinos präsentiert ein Panorama der politischen, sozialen und kulturellen Szene dieser sieben Länder, wobei die Eigenheiten und Traditionen jeder Nation ebenso beleuchtet werden wie die Gemeinsamkeiten und kollektive Identität.
Die lateinamerikanische Filmindustrie, und spezifisch jene der Andenregion, wuchs mit der wirtschaftlichen Kapazität und dem Investitionswillen der jeweiligen Länder. Das Filmschaffen stand zudem stets in direktem Zusammenhang mit sozialen und politischen Turbulenzen, sowohl in der Region selbst als auch unter dem Einfluss externer Ereignisse. Auf die Ankunft des Kinos um 1896 folgt seine langsame Verbreitung, doch erst in den 1940er und 50er Jahren beginnt die einheimische Produktion zu blühen, nachdem die Staaten Gesetze zur Filmförderung erlassen haben. Insbesondere Argentinien sticht diesbezüglich hervor. Nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Einfluss der kubanischen Revolution entsteht eine neue Kinokultur, die rasch politisiert wird. Filmschaffende lassen sich in dieser Zeit von unterschiedlichsten – vor allem ausländischen – Quellen inspirieren, was eine Phase der Experimente einläutet.
Die 1960er und 70er Jahre waren entscheidend: Angefacht von Volksbewegungen, die kulturelle, politische und wirtschaftliche Autonomie forderten, entstand in einem postkolonialen Kontext die neue lateinamerikanische Filmbewegung, die einen Bruch mit der etablierten Filmpraxis brachte. Die Bewegung wollte die Realitäten Lateinamerikas mit allen ihren Kontrasten aufzeigen und stellte neue, bis anhin ignorierte Themen in den Mittelpunkt, wie etwa das kollektive Gedächtnis der Ausgegrenzten. Es war eine hochkritische Bewegung, die sich gegen das Establishment und den Mainstream wandte und ein Kino anstrebte, das soziopolitische Veränderungen auslösen konnte. Es führte zunächst vor allem in Argentinien und Chile zu einer fruchtbaren Produktion, bevor es sich in der Region weiterverbreitete, vor allem nach Kolumbien, Ecuador und Venezuela. Gleichzeitig bildeten sich mehrere nationale Strömungen heraus, die ein autochthones Autorenkino anstrebten.
In den späten 1970er Jahren kam es mit dem Aufstieg von Diktaturen und schwindenden Finanzmitteln zu einem Rückgang der Filmproduktion in der Region. Viele Filmschaffende gingen ins Exil und arbeiteten im Ausland weiter. Die 1980er waren eine Zeit der Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung und prekärer Distributionskanäle. Seit den 1990ern erleben verschiedene Filmindustrien wieder ein beachtliches Wachstum und kreative Wellen, insbesondere in Argentinien, das zu Recht als führende Kraft in der Region gilt, aber auch in Chile und Kolumbien. Das Filmschaffen von Bolivien, Peru und Ecuador wiederum wird zwar oft vernachlässigt, doch entstehen auch in diesen Ländern relevante Werke, die das Leben indigener Gruppen in der heutigen Zeit beleuchten.
Wir sind uns der enormen Vielfalt der Region und der Eigenheit der einzelnen Länder bewusst. Wir wollen diese keinesfalls homogenisieren oder ihre Erfahrungen miteinander gleichsetzen. Stattdessen möchten wir mit unserer Auswahl den Multikulturalismus dieser Nationen und gleichzeitig ihre gemeinsamen Erfahrungen im Laufe der Geschichte aufzeigen. Entsprechend sind die Programme nicht nach Nationen, sondern thematisch strukturiert.
Drei Programme widmen sich den soziopolitischen Verhältnissen in den Andenländern. Während zwei davon, Working the Land und Critical Contrasts, eine historische Perspektive einnehmen, fokussiert Andean Paradox auf die Gegenwart und den zunehmenden Willen in der Gesellschaft, sich Handlungsmacht zurückzuerobern. Das Programm Tierra vital ist eine Reise durch Landschaften, welche die kulturellen Praktiken, Identitäten und Vorstellungen der Bevölkerung prägen. Es geht um den Zusammenhang zwischen Ort und Zughörigkeitsgefühl. Family Comes First widmet sich – wie der Titel besagt – der Bedeutung der Familie, den Konflikten und Bindungen zwischen Familienmitgliedern. Queere Erfahrungen und körperliche Selbstbestimmung erhalten im Programm Free Your Mind, Free Your Body ein Fenster. Die Programme Stories of the Uncanny und Blurred Lines spiegeln sich gewissermassen: In ersterem dient der Animationsfilm als Medium, um schwierige, seltsame und scheinbar disparate Themen zu beleuchten, die gleichzeitig anziehend und abstossend wirken. Letzteres ist vom magischen Realismus inspiriert, wo Spuren des Übernatürlichen im Alltäglichen auftauchen – ein atmosphärisches Programm, in dem sich Realität und Magie vermischen.
Die Anden sind eine facettenreiche Region, die von einer geheimnisvollen und mystischen Aura umgeben ist. Als kolumbianische Kuratorin, die mehrere Jahre in Europa gelebt hat, bin ich mir der vielfältigen Assoziationen bewusst, die mit dem Begriff «Lateinamerika» verbunden sind. Viele betrachten uns mit Sehnsucht und Verlangen, einige mit Angst. Während uns die einen mit ehrlicher Neugier begegnen, wollen andere unsere Länder ausbeuten. Wir gelten auch als unglaublich offene und warmherzige, glückliche und liebevolle Menschen, die allen mit offenen Armen begegnen. Unsere Staaten hingegen werden meist mit politischer und sozialer Instabilität assoziiert – ein Urteil, das dann mit der Schönheit der Bevölkerung und den majestätischen und vielseitigen Landschaften der Region kontrastiert wird. Trotzt der Stereotypen und der Bilder, die wir hervorrufen, sind wir zweifellos eine plurikulturelle und multiethnische Region, die sich ein Gebiet und eine koloniale Vergangenheit teilt, aber gleichzeitig unterschiedliche Länder mit ihren je eigenen, komplexen politischen und sozioökonomischen Realitäten umfasst.
Text: Mariana Bonilla Rojas Kuratiert von Mariana Bonilla Rojas, John Canciani, Laura Walde, Federico Windhausen
Free Your Mind, Free Your Body
LGBTQI+-Menschen leben gefährlich in Lateinamerika. Eine patriarchalische Kultur geprägt vom Katholizismus bringt sehr rigide Vorstellungen von Geschlechterrollen mit sich – die Genderdebatte hat da keinen Platz. Oder doch? Einige Länder haben fortschrittliche Gesetze, die beispielsweise das einfache Ändern eines Vornamens für Transmenschen erlaubt. So etwa Kolumbien, das bezüglich LGBTQI+-Rechten eines der progressivsten Länder der Region ist. 2011 wurde ein Gesetz zum Verbot von sexueller Diskriminierung erlassen und 2016 die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. Zum Vergleich: Letzteres gilt in der Schweiz erst seit 2022. In der Realität zeigt sich jedoch ein ganz anderes Bild: Zusammen mit Mexiko und Honduras ist Kolumbien für 90 % der tödlichen Gewalt an LGBTQI+-Menschen in Lateinamerika verantwortlich. Täglich sterben auf dem Kontinent im Durchschnitt vier Menschen für ihre sexuelle Identität.
Das Programm Free Your Mind, Free Your Body widmet sich dem Thema der Selbstbestimmung – über den eigenen Körper wie auch das Geschlecht. In einer Kultur, in der sich die Lebensrealität vieler Menschen stark unterscheidet von den Rechten, die sie laut Gesetz eigentlich hätten. Ihre Freiheit liegt nicht im Schutz durch den Staat, sondern im Lebensentscheid, gesellschaftliche Normen zu brechen. Normen und Ideale werden selten so öffentlich und direkt ausgelebt wie in Bezug auf unsere Körper. Soziale Medien dienen dabei als Kanäle, um diese Normen zu manifestieren, gleichzeitig bieten sie vielen Menschen aber auch eine Gelegenheit zur performativen Selbstdarstellung und Ermächtigung.
Free Your Mind, Free Your Body zeigt vier Filme mit Protagonist:innen, die sich den Vorstellungen einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft mal mehr, mal weniger aktiv widersetzen und so nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Identität von repressiven Normen befreien. Im ersten Film lernen wir – posthum – Camilo Naja kennen, der in der Queer-Szene der kolumbianischen Stadt Medellín und auf Social-Media-Kanälen als «Son of Sodom» bekannt war. Frei spricht er über sein Leben, seine Sexualität, seinen Drogenkonsum und darüber, dass er keine Angst vor dem Tod hat. Angst vor einem Leben und einer Identität ohne Zukunft aber durchaus. «SNAP» erkundet das Potenzial sozialer Medien (Snapchat im Spezifischen), über die Verbindung von Geschlecht, Sex, Körper, Identität und Performativität zu sinnen. Der Protagonist von «The Foreign Body» entspricht nicht dem Körperideal einer Macho-Gesellschaft. Sein Streben nach Normierung kollidiert mit seinem Selbstbild. Und in «Aribada» verwischen sich Traum und Realität, Fiktion und Dokumentation, Magisches und Mythisches zu einer futuristischen Welt, in der «trans» das Adjektiv der Stunde ist.
Die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur sind das bedeutendste Kurzfilmfestival der Schweiz. Jeden November verwandeln wir die Stadt Winterthur für sechs Tage in eine Kurzfilmmetropole.
An den Kurzfilmtagen gibt es für alle etwas zu entdecken: Wir zeigen sorgfältig zusammengestellte Kurzfilmprogramme zu aktuellen Geschehnissen oder zu Themen, die unseren Kurator:innen unter den Nägeln brennen. Die Wettbewerbsblöcke fühlen den Puls des aktuellen, weltweiten Filmschaffens und die Installationen, Performances und weiteren Specials machen audiovisuelle Formen in ihrer ganzen Vielfalt erlebbar. Ein Rahmenprogramm mit Konzerten, Lesungen und mehr erweitert das Festivalerlebnis.
Der Kurzfilm ist nicht einfach ein kürzerer Film. Er ist eine eigene Kunstform, die wir mit unserem Festival jährlich in den Fokus stellen.
Der Kurzfilm erscheint in allen Genres und kann unterschiedlich lang – oder eben kurz – sein. Einfachere Produktionswege machen es ihm möglich, den Zeitgeist und Strömungen rasch einzufangen und abzubilden. Der kurze Film kann unterhalten, überraschen, die Gesellschaft analysieren, eine politische Haltung einnehmen oder Einblick in uns fremde Welten geben.
Wir bündeln unsere Kurzfilme in thematischen Programmen oder nach bestimmten Sektionen, wie z.B. unsere Wettbewerbe, und stimmen die Filme und Reihenfolge aufeinander ab. Für den Kurzfilmgenuss gibt es somit nur eine Voraussetzung: die Neugierde, Neues zu entdecken und sich überraschen zu lassen.