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Woher kommt das Wesen, das mich verfolgt? Kommt es aus meinem Innern oder von anderswo? Wovon ernährt es sich? Von Wut oder Schuld? Trauma oder Verlust? Verlangen oder vielleicht Liebe? Oder einfach nur Hunger? Blurred Lines ist eine Kompilation von sechs stimmungsvollen Kurzfilmen, die das Publikum ins Reich des Rätselhaften entführen. Magie und Realität treten in Kontakt und die Grenze zwischen ihnen löst sich auf.
Ein griechisch-kreolischer, volkspolitischer Western inmitten der Palmen und Sojafelder der argentinischen Pampa. Der böse Gaucho ruft den Geist seines toten Bruders hervor, Drama und Gewalt nehmen ihren Lauf. Wie der Gaucho ist auch der Kentaur ein längst verlorener Mythos.
Jaime fällt bei der Arbeit auf seinem Feld in den Anden Ecuadors plötzlich tot um. Er ist das jüngste Opfer einer mysteriösen Krankheit, die seine indigene Gemeinschaft befallen hat. Sein Tiergeist entschlüpft seinem leblosen Körper und wandert durch die Landschaft, bis er den Geist seiner Frau trifft, und gemeinsam machen sie sich auf ins Reich der Toten.
Es ist Nacht in den Vorstädten und etwas Seltsames durchbricht die Stille – ein Wesen, das im Dunkeln lauert.
Archeology of Pleasure Javier Di Benedictis / Argentinien 2017 / 8'12" / DCP / Farbe / ohne Dialog / Ani/Exp
El Sátiro (1907) gilt oft als erster Porno der Filmgeschichte und wurde angeblich in Argentinien gefilmt. Das Original dürfte in einer Privatsammlung sein, der Film zirkuliert aber auch im Internet. Bild für Bild wurde die Kopie von Hand restauriert. In einem visuellen Essay untersuchen wir die Konservierung von Bildern und die Geschichte von Gewalt und Sexualität.
In einer Fischerbucht auf einer Insel, wo die Natur nicht nur Dekor, sondern Kraft des Geschehens ist, ranken sich bei den Einheimischen Gerüchte um den Teufel in einer nahegelegenen Höhle. Der junge Gabriel fühlt sich von einer geheimnisvollen androgynen Frau angezogen, die sich Héctor nennt.
In den Tiefen ihres Bewusstseins nimmt der Schmerz die Form einer Bestie an. Eine Liebesbeziehung legt die Düsternis im Inneren frei, um in der realen Welt, einem Schatten gleich, zu erscheinen. Der Film ist eine sinnliche Erfahrung, eine Reise zu dem, was schmerzt. Ein Blick auf die Dämonen, die jahrelang zum Schweigen gebracht wurden und sich heute an die Oberfläche drängen.
Die Anden erstrecken sich von Argentinien, wo sie als natürliche Grenze zu Chile fungieren, nordwärts durch Bolivien, Peru, Ecuador und Kolumbien, wo sie sich dreifach verzweigen, wobei einer der drei Zweige bis nach Venezuela reicht. Die acht kuratierten Programme unseres Grossen Fokus sind das Resultat einer umfassenden audiovisuellen Recherche über dieses riesige Gebiet. Los Estados Andinos präsentiert ein Panorama der politischen, sozialen und kulturellen Szene dieser sieben Länder, wobei die Eigenheiten und Traditionen jeder Nation ebenso beleuchtet werden wie die Gemeinsamkeiten und kollektive Identität.
Die lateinamerikanische Filmindustrie, und spezifisch jene der Andenregion, wuchs mit der wirtschaftlichen Kapazität und dem Investitionswillen der jeweiligen Länder. Das Filmschaffen stand zudem stets in direktem Zusammenhang mit sozialen und politischen Turbulenzen, sowohl in der Region selbst als auch unter dem Einfluss externer Ereignisse. Auf die Ankunft des Kinos um 1896 folgt seine langsame Verbreitung, doch erst in den 1940er und 50er Jahren beginnt die einheimische Produktion zu blühen, nachdem die Staaten Gesetze zur Filmförderung erlassen haben. Insbesondere Argentinien sticht diesbezüglich hervor. Nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Einfluss der kubanischen Revolution entsteht eine neue Kinokultur, die rasch politisiert wird. Filmschaffende lassen sich in dieser Zeit von unterschiedlichsten – vor allem ausländischen – Quellen inspirieren, was eine Phase der Experimente einläutet.
Die 1960er und 70er Jahre waren entscheidend: Angefacht von Volksbewegungen, die kulturelle, politische und wirtschaftliche Autonomie forderten, entstand in einem postkolonialen Kontext die neue lateinamerikanische Filmbewegung, die einen Bruch mit der etablierten Filmpraxis brachte. Die Bewegung wollte die Realitäten Lateinamerikas mit allen ihren Kontrasten aufzeigen und stellte neue, bis anhin ignorierte Themen in den Mittelpunkt, wie etwa das kollektive Gedächtnis der Ausgegrenzten. Es war eine hochkritische Bewegung, die sich gegen das Establishment und den Mainstream wandte und ein Kino anstrebte, das soziopolitische Veränderungen auslösen konnte. Es führte zunächst vor allem in Argentinien und Chile zu einer fruchtbaren Produktion, bevor es sich in der Region weiterverbreitete, vor allem nach Kolumbien, Ecuador und Venezuela. Gleichzeitig bildeten sich mehrere nationale Strömungen heraus, die ein autochthones Autorenkino anstrebten.
In den späten 1970er Jahren kam es mit dem Aufstieg von Diktaturen und schwindenden Finanzmitteln zu einem Rückgang der Filmproduktion in der Region. Viele Filmschaffende gingen ins Exil und arbeiteten im Ausland weiter. Die 1980er waren eine Zeit der Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung und prekärer Distributionskanäle. Seit den 1990ern erleben verschiedene Filmindustrien wieder ein beachtliches Wachstum und kreative Wellen, insbesondere in Argentinien, das zu Recht als führende Kraft in der Region gilt, aber auch in Chile und Kolumbien. Das Filmschaffen von Bolivien, Peru und Ecuador wiederum wird zwar oft vernachlässigt, doch entstehen auch in diesen Ländern relevante Werke, die das Leben indigener Gruppen in der heutigen Zeit beleuchten.
Wir sind uns der enormen Vielfalt der Region und der Eigenheit der einzelnen Länder bewusst. Wir wollen diese keinesfalls homogenisieren oder ihre Erfahrungen miteinander gleichsetzen. Stattdessen möchten wir mit unserer Auswahl den Multikulturalismus dieser Nationen und gleichzeitig ihre gemeinsamen Erfahrungen im Laufe der Geschichte aufzeigen. Entsprechend sind die Programme nicht nach Nationen, sondern thematisch strukturiert.
Drei Programme widmen sich den soziopolitischen Verhältnissen in den Andenländern. Während zwei davon, Working the Land und Critical Contrasts, eine historische Perspektive einnehmen, fokussiert Andean Paradox auf die Gegenwart und den zunehmenden Willen in der Gesellschaft, sich Handlungsmacht zurückzuerobern. Das Programm Tierra vital ist eine Reise durch Landschaften, welche die kulturellen Praktiken, Identitäten und Vorstellungen der Bevölkerung prägen. Es geht um den Zusammenhang zwischen Ort und Zughörigkeitsgefühl. Family Comes First widmet sich – wie der Titel besagt – der Bedeutung der Familie, den Konflikten und Bindungen zwischen Familienmitgliedern. Queere Erfahrungen und körperliche Selbstbestimmung erhalten im Programm Free Your Mind, Free Your Body ein Fenster. Die Programme Stories of the Uncanny und Blurred Lines spiegeln sich gewissermassen: In ersterem dient der Animationsfilm als Medium, um schwierige, seltsame und scheinbar disparate Themen zu beleuchten, die gleichzeitig anziehend und abstossend wirken. Letzteres ist vom magischen Realismus inspiriert, wo Spuren des Übernatürlichen im Alltäglichen auftauchen – ein atmosphärisches Programm, in dem sich Realität und Magie vermischen.
Die Anden sind eine facettenreiche Region, die von einer geheimnisvollen und mystischen Aura umgeben ist. Als kolumbianische Kuratorin, die mehrere Jahre in Europa gelebt hat, bin ich mir der vielfältigen Assoziationen bewusst, die mit dem Begriff «Lateinamerika» verbunden sind. Viele betrachten uns mit Sehnsucht und Verlangen, einige mit Angst. Während uns die einen mit ehrlicher Neugier begegnen, wollen andere unsere Länder ausbeuten. Wir gelten auch als unglaublich offene und warmherzige, glückliche und liebevolle Menschen, die allen mit offenen Armen begegnen. Unsere Staaten hingegen werden meist mit politischer und sozialer Instabilität assoziiert – ein Urteil, das dann mit der Schönheit der Bevölkerung und den majestätischen und vielseitigen Landschaften der Region kontrastiert wird. Trotzt der Stereotypen und der Bilder, die wir hervorrufen, sind wir zweifellos eine plurikulturelle und multiethnische Region, die sich ein Gebiet und eine koloniale Vergangenheit teilt, aber gleichzeitig unterschiedliche Länder mit ihren je eigenen, komplexen politischen und sozioökonomischen Realitäten umfasst.
Text: Mariana Bonilla Rojas Kuratiert von Mariana Bonilla Rojas, John Canciani, Laura Walde, Federico Windhausen
Blurred Lines
Dieses Programm ist vom magischen Realismus inspiriert, bei dem in realistischen Settings übernatürliche Elemente auftauchen, die sich meist auf die lokale Kultur und Folklore berufen. In den sowohl formal als auch inhaltlich vielschichtigen Erzählungen verbirgt sich der wahre Sinn oft unter der Oberfläche. Das Absurde dringt störend in den Alltag ein, wird dort rasch absorbiert, normalisiert und bald schon als natürlich gesehen. Mit dieser wirkungsvollen Erzähltechnik lassen sich ungewöhnliche ebenso wie alltägliche Erfahrungen schildern.
Das Programm lädt auf eine Reise ein, die ein aktives Zuschauen erfordert. Die Geschichten rufen Zweifel und Verwirrung hervor, erwecken Neugier, üben Anziehungskraft aus. Mehrdeutig und irreführend erzählt, geben sie Raum für vielfältige Interpretationen. Der rote Faden, der sich durch das Programm zieht, ist dieses lauernde Wesen: eine mythologische, vielleicht metaphorische oder gar spirituelle Kreatur, die quält, plagt, verzehrt, hinterfragt und uns zuweilen zu befreien vermag.
Ein mythologisches Geschöpf zwischen Mensch und Pferd eröffnet eine Diskussion über Verlust und Ehre in einer rein männlichen Welt; ein Tiergeist schlägt eine Brücke zwischen dem Land der Lebenden und dem Reich der Toten; ein gestaltwandelndes Wesen verschlingt alle, die ihm über den Weg laufen; ein raubtierhafter Satyr streift durch die Gegend; eine geheimnisvolle Frau scheint die Legende einer Insel zu verkörpern; und eine innere Kreatur wächst und wächst immer weiter.
Woher kommt das Wesen, das mich verfolgt? Kommt es aus meinem Innern oder von anderswo? Wovon ernährt es sich? Von Wut oder Schuld? Trauma oder Verlust? Verlangen oder vielleicht Liebe? Oder einfach nur Hunger? Blurred Lines ist eine Kompilation von sechs stimmungsvollen Kurzfilmen, die das Publikum ins Reich des Rätselhaften entführen. Magie und Realität treten in Kontakt und die Grenze zwischen ihnen löst sich auf.
Der Kurzfilm ist nicht einfach ein kürzerer Film. Er ist eine eigene Kunstform, die wir mit unserem Festival jährlich in den Fokus stellen.
Der Kurzfilm erscheint in allen Genres und kann unterschiedlich lang – oder eben kurz – sein. Einfachere Produktionswege machen es ihm möglich, den Zeitgeist und Strömungen rasch einzufangen und abzubilden. Der kurze Film kann unterhalten, überraschen, die Gesellschaft analysieren, eine politische Haltung einnehmen oder Einblick in uns fremde Welten geben.
Wir bündeln unsere Kurzfilme in thematischen Programmen oder nach bestimmten Sektionen, wie z.B. unsere Wettbewerbe, und stimmen die Filme und Reihenfolge aufeinander ab. Für den Kurzfilmgenuss gibt es somit nur eine Voraussetzung: die Neugierde, Neues zu entdecken und sich überraschen zu lassen.
Das Festival
Die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur sind das bedeutendste Kurzfilmfestival der Schweiz. Jeden November verwandeln wir die Stadt Winterthur für sechs Tage in eine Kurzfilmmetropole.
An den Kurzfilmtagen gibt es für alle etwas zu entdecken: Wir zeigen sorgfältig zusammengestellte Kurzfilmprogramme zu aktuellen Geschehnissen oder zu Themen, die unseren Kurator:innen unter den Nägeln brennen. Die Wettbewerbsblöcke fühlen den Puls des aktuellen, weltweiten Filmschaffens und die Installationen, Performances und weiteren Specials machen audiovisuelle Formen in ihrer ganzen Vielfalt erlebbar. Ein Rahmenprogramm mit Konzerten, Lesungen und mehr erweitert das Festivalerlebnis.